Meer der Heiterkeit - Dusan Prusak

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Meer der Heiterkeit

literatur
Meer der Heiterkeit

„Physikalische Konzepte sind freie Schöpfungen des menschlichen Geistes und nicht, wie immer es uns auch scheinen mag, einzig von der Aussenwelt vorgezeichnet.“ (Albert Einstein)

Ich denke, also bin ich.
Wenn ich nicht denke, dann bin ich nicht.
Wenn ich denke, mein Nachbar, Herr Meier aus dem dritten Stock ist ein Arschloch, ist er somit dann tatsächlich ein Arschloch?
Nicht wirklich…Vielleicht bin ich es.
Wenn aber der halbe Block denkt, mein Nachbar, der Herr Meier aus dem dritten Stock sei ein Arschloch, dann könnte an der Sache schon eher was dran sein.
Auch wenn Herr Meier aus dem dritten Stock ein überaus kluger, kultivierter und feinfühliger Mensch sein sollte, so würde er sich langsam aber unaufhaltsam in ein mieses Arschloch verwandeln, sobald die gesamte Nachbarschaft, all seine Freunde, Verwandte und Bekannte, seine Frau, seine Kinder, seine Arbeitskollegen, seine Vorgesetzten und Untergebenen und sogar die Frau an der Kasse im Supermarkt, wo Herr Meier seine Einkäufe tätig, und der Busfahrer, der Herrn Meier zur Arbeit fährt, überzeugt wären, er sei ein Arschloch.
Allein schon deshalb, weil Herr Meier so klug, kultiviert und feinfühlig ist. Dem kollektiven Bewusstsein seiner Mitmenschen wäre Herr Meier hilflos und unwiderruflich ausgeliefert. Denn das kollektive Bewusstsein hat die Macht, Dinge, Fakten und Leute zu verändern.
 
Ich denke, die Erde ist eine Kugel.
Also ist die Erde eine Kugel. Aber nicht deshalb, weil ich es denke.
Würde ich denken, die Erde sei ein Meerschweinchen, so bliebe die Erde immer noch eine Kugel.
Wenn aber 5 Milliarden Menschen denken würden, die Erde sei ein Meerschweinchen, so würde die Erde dem kollektiven Bewusstsein gehorchen und sich langsam von einer Kugel in ein Meerschweinchen verwandeln, und die Menschheit bestünde aus winzigen Flöhen oder sonstigem Schmarotzervieh, Mikroben und Milben, welches im Fell des Meerschweinchens hausen und sich von dessen Hautschuppen und Ausdünstungen nähren. Und so, wie wir heute Löcher in die Erdkugel bohren, um an ihr Öl, ihre Erze und Mineralien zu gelangen, so würden wir Löcher in die Haut des Meerschweinchens bohren, um an seinem Blut zu saugen und an seinem Schweiss zu laben. All dies nur dank der Macht des kollektiven Bewusstseins.

Doch glücklicherweise glauben keine 5 Milliarden Menschen, die Erde sei ein Meerschweinchen.

In Wahrheit verschwendet kaum jemand nur einen Gedanken daran, die Erde könnte vielleicht, unter ganz gewissen Umständen, ein Meerschweinchen sein. Und so ist die Erde heute eine Kugel, weil die meisten Menschen davon überzeugt sind, sie sei eine Kugel.
 
Vor Tausenden von Jahren dachte der Grossteil der Menschheit, die Erde sei eine flache Scheibe, deren Begrenzung an den äusseren Rändern ein jäh abfallender Abgrund darstellt, welcher ins Bodenlose führt. Und so war vor Tausenden von Jahren die Erde tatsächlich eine Scheibe, deren Rand ein Abgrund war, der bis ins Bodenlose reichte, denn die Macht des kollektiven Bewusstseins richtet sich nach den Regeln der Demokratie.
Und auch wenn das nicht der Fall wäre, wenn die Regeln der Demokratie im kollektiven Bewusstsein nicht funktionieren sollten, so war die Erde damals trotzdem eine flache Scheibe, denn auch Könige, Fürsten, Kaiser und Päpste dachten damals, die Erde sei eine Scheibe
 
Vor Tausenden von Jahren, als die Erde eine Scheibe war, geriet ein portugiesischer Fischer mit seinem Boot in einen Sturm.
Der Sturm wehte ihn aufs Meer hinaus und blies ihn bis an den Rand der Erde – und darüber hinaus. Sein Boot glitt über die Kante in den Abgrund, der ins Bodenlose reichte.
 
Und er fiel
Und er fiel
Und er fiel
Und er fiel
Und er fiel
Und er fiel
Und er fiel
Und er fiel
Und er fiel
Und er fiel
Und er fiel
Und er fiel
Und er fiel
Und er fiel
Und er fiel
Und er fiel ins Bodenlose.
  
Er wurde aus seinem Boot geschleudert, als es über die Kante in den Abgrund glitt. Sein Körper drehte sich und trudelte unkontrolliert im freien Fall. Der Fallwind blies ihm hart ins Gesicht. Seine Augen brannten. Er erhaschte einen kurzen Blick auf die Unterseite der Erdscheibe. Daran hingen schlafende Fledermäuse. Es waren sehr viele. Er spürte etwas an seiner linken Wade. Er sah sich um und bemerkte eine Meeresschildkröte, die ihre Pfoten um seine Wade geschlungen hatte und mit ihrem Hinterleib in rhythmischen Bewegungen auf seine Wade einstiess. Es musste ein Männchen sein, dachte er. Also war es ein Männchen. Er versuchte es abzuschütteln, wackelte heftig mit seinem Bein, doch die Schildkröte klammerte sich noch fester um seine Wade und drang weiter mit penetranter Vehemenz darauf ein.
 
Ein dunkler Schatten huschte an ihm vorbei, und gleichzeitig fühlte er einen festen Stoss an seinem Bein. Etwas riss ihm die Schildkröte von der Wade. Ein Hai. Eine Sekunde lang schwebte der Hai neben ihm, die Schildkröte zwischen den Zähnen. Seine Schwanzflosse flatterte im Fallwind. Der Hai schien ihm zuzublinzeln. Gemeinsam fielen sie ins Bodenlose. Dann beugte der Hai seinen Körper gegen den Wind und entschwand mit ungeheurer Geschwindigkeit im trüben Nichts des bodenlosen Abgrunds.
Der Fischer sah sich um. Er bemerke Dinge, die mit ihm zusammen vom Rand der Erde den bodenlosen Abgrund hinunterfielen. Fische und andere Meeresbewohner, die sich in unvorsichtiger Weise zu sehr dem Rand der Erde genähert hatten und runterfielen, Tang, Seegras und andere Wasserpflanzen, die vom Meeresboden am Erdenrand abgebrochen waren, manchmal zusammen mit ganzen Korallenstöcken, grosse und kleinere Wasserbrocken, die vom Ozean abgetropft waren und nun flatternd im Fallwind glitzerten.
Er bemerkte eine goldene Kutsche samt Pferden, sechs Schimmel mit wehenden Mähnen, die im freien Fall an ihm vorbei trudelte. Aus dem Innern der Kutsche glaubte er jemanden rufen zu hören. Es klang wie ein freundliches Hallo. Doch vielleicht täuschte er sich, denn der Fallwind brauste in seinen Ohren.
 
Dann meinte er, ein klägliches Jammern zu vernehmen. Es kam von einem Pottwal-Baby, das nach seiner Mama rief. Mama-Pottwal tauchte sogleich auf, stiess einen langen, dumpfen Laut aus und umfasste ihr Kind mit der Brustflosse. Dann drehte sich Mama-Pottwal im Fallwind und verschwand mit ihrem Kind in der Tiefe des Bodenlosen.
 
Und er bemerkte sein Boot, das mit dem Kiel voran über ihm schwebte, ruhig und majestätisch. Der Fischer versuchte, sein Boot zu erreichen. Es war nicht sehr weit weg. Doch er konnte sich nirgends festhalten oder abstützen, um zu seinem Boot zu gelangen. Zwar bekam er einige Sachen zu fassen, die um ihn herum im Winde flatterten – einen grossen Ast, der einst von der Flut ins Meer gespült wurde, einen Mondfisch, der seine Berührung allerdings mit einem Knurren quittierte und ihm sogleich entglitt, einen grossen Wasserbrocken, der aber in Tausende von Tropfen zerschellte, als er danach griff, beinahe hätte er sogar nach einem Seeigel gegriffen – doch all das half ihm nichts.
 
Dann erinnerte er sich an den Hai und den Pottwal, wie sie mit ihren Körpern im Wind so gekonnt manövrieren konnten. Seine bisherige Fluglage war ein unkontrolliertes Trudeln. Nun spannte er seinen Körper und brachte sich in eine stabile Position. Er bemerkte, dass er seine Arme und Beine wie Ruder gebrauchen konnte, um seine Position zu ändern. Wenn er alle Viere von sich streckte, verlangsamte sich sein freier Fall. Wenn er sie eng an den Körper hielt und den Kopf leicht nach vorne beugte, schoss er wie ein Pfeil durch die Gegend. Mit den Händen konnte er sogar feinste Kurskorrekturen vornehmen.
Also verlangsamte er nun sein Tempo, indem er alle Viere von sich streckte und näherte sich langsam seinem Boot, das über ihm schwebte.
Doch ehe er bei seinem Boot ankam, erschien ein gigantischer Tintenfisch aus dem Zwielicht des Bodenlosen. Bedrohlich wedelte er mit seinen acht Armen, während er sich dem Fischer näherte. Finster fixierten ihn seine tellergrossen Augen. Plötzlich fuhr der Tintenfisch seine Tentakel aus und umfasste die goldene Kutsche, die immer noch hinter dem Fischer im Wind trudelte und woraus immer noch hin und wieder freundliche Hallo-Rufe klangen. Mitsamt den Pferden zog der Krake die Kutsche zu sich und liess sie in seinem Schlund verschwinden. Sogleich tauchte der Riesenkrake wieder ab und verschwand im Zwielicht des Abgrunds.
 
Endlich bekam der Fischer sein Boot am Kiel zu fassen. Mühsam kletterte er am Rumpf hoch und stieg in die windgeschützte Koje.
Im Boot, welches mit dem Kiel voran ins Bodenlose stürzte, war er vom Wind geschützt. Es war ruhig und warm drinnen. Der Fischer war müde, sein Körper vom Wind unterkühlt, seine Augen brannten. Er schlief ein. Er träumte von rosaroten Hunden in Ruderbooten.
 
Er wachte auf, als etwas gegen sein Boot stiess. Der Fischer rieb sich die Augen. Er sah, wie jemand in sein Boot stieg. Es war eine Frau. Ihre Haut war dunkelbraun, ihr schwarzes Haar gewellt. Er fragte sie, woher sie kam. Sie antwortete in einer Sprache, die er nicht verstand. Er sagte ihr seinen Namen. Sie verstand seine Sprache nicht. Sie sagte ihm ihren Namen, und dass sie vom Rand der Welt hinunterfiel, genau wie er, doch er verstand ihre Sprache nicht. So sassen sie beide in seinem Boot, sprachen miteinander, ohne sich zu verstehen, und deshalb lachten sie, denn das war das einzige, das sie beide verstanden.
Unterdessen war er hungrig und durstig geworden. Im Boot gab es nichts zu essen, nichts zu trinken. Er sagte ihr, dass er nach draussen gehen würde, um etwas zu essen und zu trinken zu suchen. Sie verstand nicht und lachte.
Er kroch aus dem Boot. Der Wind blies ihm hart ins Gesicht.
Er entdeckte einen grösseren Wasserbrocken, der unweit von ihm im Fallwind glitzerte. Er steuerte darauf zu. Als er ihn erreichte, fing er an, heftig daran zu saugen, um seinen Durst zu löschen. Doch der Wasserbrocken bestand aus Meerwasser, das sich vom Ozean am Rande der Welt gelöst hatte und den bodenlosen Abgrund hinunterfiel. Es war salzig, und er hustete und würgte es wieder heraus.
 
Hinter ihm hörte er helles Lachen. Die Frau war ihm gefolgt und hatte ihm zugesehen, wie er sich am Meerwasserbrocken saugte. Nun zog sie ihn an der Schulter und führte ihn durch den Wind zu einem anderen Wasserbrocken. Darin schwamm ein Kugelfisch. Er war mächtig aufgebläht, hatte Form und Grösse eines Medizinballs. Sie griff in den Wasserbrocken, zog vorsichtig den Kugelfisch heraus und reichte ihn dem Fischer. Ratlos blickte er sie an, denn er wusste nicht, was er damit anfangen sollte. Sie verstand und lachte. Sie wandte sich um, schnappte sich eine vorbeifliegende Wasserhyazinthe und brach ein Stück des hohlen Stiels heraus. Sie schob den Stiel in den Anus des Kugelfisches, dem dabei ein leises Geräusch der Erleichterung entfuhr. Sie deutete ihm, daran zu saugen. Er verstand und saugte.
  
Erquickend und labend ist der Saft des Kugelfischs. Pumpt er sich mit Meerwasser voll, so entzieht er ihm durch Osmose den Grossteil des Salzes, welches der Fisch selbst für seinen Stoffwechsel braucht und verwertet. Gleichzeitig reichert er das Wasser in seinem Innern mit Nährstoffen und Vitaminen an. Damit lockt er andere Lebewesen an, die das Wasser aus seinem Innern heraussaugen,
denn nur so,
denn nur so,
denn nur so,
denn nur so
kann er sich wieder mit frischem Meerwasser versorgen, um seinen stetigen Salzbedarf zu decken.
 
Der Fischer saugte am Hyazinthenstengel, bis der Medizinball auf die Hälfte seiner ursprünglichen Grösse geschrumpft war.
Er fühlte seine Kräfte wiederkommen.
Dann gab er ihr den Kugelfisch zurück, und sie saugte ihn ganz leer.
Sie zog den Hyazinthenstiel aus dem Anus des leer gesaugten Kugelfisches, welcher nun aussah wie eine gedörrte Feige. Sachte schob sie ihn zurück in den Wasserbrocken. Sogleich fing der Kugelfisch darin an, sich wieder mit Meerwasser voll zu saugen und aufzublähen, und bald hatte er wieder die Form und Grösse eines Medizinballs.
Sie machten sich auf den Weg zurück ins Boot. Unterwegs pflückte die Frau einige Katzenfisch-Eier aus einem Stück Korallenriff, das an ihnen vorbeisegelte. Das würde ein gutes Frühstück abgeben. Sie wollten es sich gerade gemütlich machen im warmen, windgeschützten Inneren des Bootes, als sie über ihnen ein weiteres Boot bemerkten. Und dann noch eins.
Und noch eins
Und noch eins
Und noch eins
Und noch eins
Und noch eins
Und noch eins
Und noch eins
Und noch eins
Und noch eins
Und noch eins
Und noch eins
Und noch eins
Und noch eins
Und noch eins
Und noch eins
Und noch eins
 
So kam es, dass immer mehr Boote zusammen fanden von Fischern, die in einen Sturm gerieten, über die Kante der Erdscheibe glitten, um in den bodenlosen Abgrund zu stürzen.
 
Es kamen Boote von Händlern hinzu, die auf dem Ozean eine Abkürzung zu ihrem Ziel suchten oder sich schlichtweg verirrt hatten und in den Abgrund am Ende der Welt stürzten.
Es kam eine Galeere mit meuternden Sklaven dazu, die auf der Flucht vor ihren Herren in den Abgrund stürzte.
Es fanden Menschen zu ihnen, die absichtlich in den Abgrund der Welt sprangen, um ihrem geschundenen Leben ein Ende zu setzen.
Andere kamen hinzu, die von ihren Priestern hinein geworfen wurden, um die Götter ihres Volkes milde zu stimmen.
Und so bildete sich im freien Fall des bodenlosen Abgrunds jenseits vom Rand der Erdscheibe eine Gesellschaft, die stetig anwuchs.
Ihre Boote banden sie zusammen. Dazu verwendeten sie Seile, die sie aus Seegras-Fasern flochten. Es waren so viele Boote, dass sie daraus eine grosse Kugel formten, in deren Inneren, welches geschützt vor Fallwind und räuberischen Angriffen von Haien Riesenkraken und Orcas war, sich die Infrastruktur einer Stadt formte.
 
Sie entwickelten eine eigene Sprache, deren zentrales Element das Lachen war. Dabei vermied man bestimmte Konsonanten wie das F oder das S, denn im Fallwind klang alles irgendwie nach FFFFFFFFF oder nach SSSSSSSSSS, und diese Konsonanten gingen darin zwangsläufig unter. Stattdessen konzentrierte man sich auf Vokale und Umlaute. Diese wurden am besten verstanden. Ging man beispielsweise zum Friseur, so sagte man:
«Haahööhiii, gööa eee ui hehehe aaaaaüuiii?»
was übersetzt hiess:
«Könnten Sie mir bitte den Nacken ausrasieren?»
Und der Friseur antwortete:
«Hohöho!», und fing sogleich an, seine Muschelklinge an einem Basaltstein zu schärfen.

Doch eigentlich gingen die Leute nicht zum Friseur. Vielmehr flogen sie dort hin.

 
Sie zeugten und gebaren Kinder, die anstatt gehen zu lernen, das Manövrieren im freien Fall erlernten.
Sie waren Jäger und Sammler, domestizierten mit der Zeit auch einige Haustiere. Delfine nutzten sie als Reittiere, um auf die Jagd nach Tunfisch und Kraken zu gehen. Sie hielten Kugelfische in grossen Wasserblasen, sie züchteten Schildkröten zur Eierproduktion. Seehunde erwiesen sich als gute Wächter, die vor Attacken randalierender Schwertwale warnten. Sie melkten Wale und Robben. Aus der Milch produzierten sie Joghurt und Käse.
 
Eines Tages tauchte vor der Stadt im freien Fall, die inzwischen aus Tausenden von Booten bestand, und die man unterdessen Stadt der Heiterkeit nannte, eine Herde Mammuts auf. Erst wusste man nichts mit diesen Tieren anzufangen. Sie sahen traurig aus und hingen einfach lethargisch vor der Stadt herum. Die Tiere schienen sich mit dem Schicksal ihres Untergangs abgefunden zu haben.
 
Man fütterte sie mit Seetang, da man Mitleid für sie empfand. Dabei stellte man fest, dass die Mammuts eine interessante Methode der Fortbewegung im freien Fall entwickelt hatten. Lockte man ein Mammut aus der Ferne mit einem Büschel Seetang, so streckte das Tier seinen Rüssel und blies daraus kräftig Luft von sich, so dass es sich durch den Rückstoss dieser Düse vorwärts, oder besser gesagt rückwärts bewegte. So konnte es das Mammut auf ausserordentlich hohe Geschwindigkeiten bringen und in Kürze mit dem Hintern voran beim Seetang-lockenden Menschen auftauchen. Durch den Ausstoss eines kräftigen Furzes wusste das Mammut sein Tempo sachte abzubremsen. Dann wedelte es mit den Ohren, drehte sich um 180 Grad und streckte den Rüssel nach dem Büschel Seetang, das ihm dargeboten wurde.
 
Also wurde das Mammut von den Menschen der Stadt im freien Fall als Nahverkehrsmittel eingesetzt, denn die Distanzen innerhalb der Stadt wurden proportional zu ihrem Wachstum immer grösser.
Und so bildeten sich in der Gesellschaft im freien Fall Berufe und Gewerbe.
Es entstanden Mammut-Busfahrer, Kugelfisch- und Schildkrötenzüchter, Krakenjäger, Fischhändler, Leute, die aus Korallen Flöten und Halskettchen bastelten, Milchbauern und Käseproduzenten.
 
Und es gab die Männer mit Hüten.
Im freien Fall würde einem Mann zwangsläufig der Hut durch den Fallwind vom Kopf geschleudert, würde er ihn nicht ständig mit seinen Händen festhalten. Nun gab es eine Gruppe von Männern, die sich beharrlich weigerten, ihren zu verlieren und ihn daher andauernd mit den Händen am Kopf festhielten. Daher konnten diese Männer ihre Hände nicht gebrauchen. Man bot ihnen an, ihren Hut an den Kopf zu binden. Doch das lehnten sie kategorisch ab, da es gegen ihre Religion und Prinzipien verstossen würde.
 
Und weil sie nichts Nützliches zur Gesellschaft im freien Fall beitragen konnten, da sie ihre Hände nicht benutzen konnten, wurden die Männer mit Hüten zu den Führern der Stadt ernannt. Sie dachten sich Gesetze und Verordnungen aus, regelten den Bus-Fahrplan und die Ladenöffnungszeiten, legten Zonen fest, in denen gejagt und gefischt werden konnte, beschlossen Regeln für den Handel und das öffentliche Verhalten.
 
Manche Verordnungen, die die Männer mit Hüten erliessen, erwiesen sich als ganz nützlich. So war gegen einen vernünftigen Bus-Fahrplan nichts einzuwenden. Andere Erlasse, wie beispielsweise die Verordnung, sich einen Schwamm an den Kopf, die Ellbogen und die Knie zu binden, wenn man ausserhalb der Stadt im freien Fall unterwegs war, wurden zumeist ignoriert. Und ging einmal ein Mann mit Hut mit einer neuen, unsinnigen Verordnung zu weit, dann kam es vor, dass er sich den Unmut des Volkes zuzog. Dann wurde ihm kurzerhand der Hut vom Kopf gerissen, und er konnte sich daraufhin einen anständigen Beruf suchen.
 
Als die Grundbedürfnisse gedeckt und gesichert waren, bildete sich in der Gesellschaft im freien Fall eine eigene Kultur. Man gestaltete Sportveranstaltungen wie Delfin-Rennen oder Pottwal-Polo. Man lauschte den Gesängen von Walen, die regelmässig vor ihrer Stadt auftauchten und im Chor auftraten, wobei sie die der Stadt der Heiterkeit regelrecht zu Tränen rührten. Man veranstaltete Theatervorstellungen, in denen Geschichten aufgeführt wurden, die zumeist aus Erinnerungen und Überlieferungen der Welt auf der Erdenscheibe bestanden. Mit der Zeit bildete sich in der Gesellschaft im freien Fall auch eine eigene Philosophie. Doch es bildete sich im Laufe der Generationen auch eine Rasse, die sich leicht von den Menschen auf der Erdscheibe unterschied.
 
Manche Kinder, die neu geboren wurden, hatten keinen Hals. Ihr Kopf war einfach eine grosse Beule zwischen den Schultern. Die Nase der meisten Neugeborenen war nichts weiter als ein kleiner Stummel mit zwei Atemlöchern, die von Hautlappen verdeckt waren. Manche Kinder hatten Hautlappen in ihren Achselhöhlen und zwischen ihren Beinen, ähnlich einem Flughörnchen. Bei vielen Neugeborenen waren die Zehen zusammengewachsen, glichen eher der Schwanzflosse einer Robbe. Andere Kinder hatten ein zweites, durchsichtiges Augenlid, das sie von unten übers Auge schieben konnten, um das Auge vor dem Wind zu schützen und trotzdem sehen zu können.
All diese Veränderungen erwiesen sich als sehr hilfreich für eine Spezies, deren Lebensraum der freie Fall war. Diese neue Generation war besser für ein Leben in einer Umgebung gewappnet, wo Fallwinde zwischen 190 und 500 Stundenkilometern auf die Menschen einwirkten. Füsse zum Laufen waren nicht nötig, doch mit flossenartigen Füssen konnte man besser im freien Fall manövrieren, ebenso mit Hautlappen zwischen den Beinen und in den Achseln. Der Hals war eine Schwachstelle zwischen Kopf und Körper, die bei solchen Windgeschwindigkeiten und unvorsichtigen Manövern leicht brechen könnte. Die Nase in ihrer ursprünglichen Form behinderte das Atmen im freien Fall.
Und so kam es, dass die Kinder dieser leicht veränderten neue Generation besser mit ihrer Umwelt klarkamen, und sich deshalb auch stärker fortpflanzten, so dass sich die körperlichen Veränderungen dieser Spezies auch auf die folgenden Generationen übertrug.
Unterdessen, es war im 17. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, sass auf der Erdkugel, die sich längst von einer Scheibe in eine Kugel verwandelt hatte, da die meisten Erdbewohner daran glaubten – weil das kollektive Bewusstsein bekanntlich die Realität steuerte, ein Mann namens Isaac Newton unter einem Apfelbaum. Die Verwandlung der Erde von Scheibe zur Kugel hatte absolut keinerlei Einfluss auf die Stadt der Heiterkeit im freien Fall, denn einerseits hatte die Stadt schon ursprünglich eine kugelförmige Gestalt durch die Tausende zusammengebundenen Boote, und andrerseits hatten die Erdbewohner absolut keine Ahnung von deren Existenz.
Isaac Newton sass unter dem Apfelbaum, und plötzlich fiel ihm ein Apfel auf den Kopf. Es muss Herbst gewesen sein. Und Isaac kam zur Erkenntnis, dass sich Materie gegenseitig anzieht.
Es dauerte einige Jahre, bis sich Newtons These in der Majorität der Erdbevölkerung einnistete, doch da war die Stadt der Heiterkeit schon zu weit von der Erde entfernt und zu nahe beim Mond.
Zur gleichen Zeit verbreiteten sich auf der Erde neue Ideen und Theorien. Eine davon besagte, dass Schwerkraft eine spezifische Eigenschaft der Materie sei, welche sich gegenseitig anzieht. Eine andere besagte, dass die Erde sowie alle anderen Himmelskörper die Form einer Kugel hätten, und dass sich der Mond um die Erde dreht und die Erde um die Sonne. Als die Hälfte der Menschheit diese Ideen und Theorien zu glauben begann, begann sich um die Erde um die Sonne zu drehen und der Mond begann sich um die Erde zu drehen.
Zur selben Zeit kollidierte ein Asteroid mit dem Mond. Der Aufschlag hinterliess einen riesigen Krater. Man nennt ihn Mare Serenitatis, das Meer der Heiterkeit.
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