Prinz von El Dorado - Dusan Prusak

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Prinz von El Dorado

literatur
1533, Cajamarca im peruanischen Hochland

Spanische Konquistadoren unter der Führung Francisco Pizarros lockten den Inka-Herrscher Atahualpa in einen Hinterhalt und nahmen ihn gefangen. Für seine Freilassung erpressten die Spanier von den Inkas Goldschätze, die einen 22 Fuss langen und 17 Fuss breiten Raum bis zu einer Höhe von 3 Metern anfüllen sollten. Die goldenen Kunstschätze, von den Inkas aus allen Himmelsrichtungen herbeigeschleppt, wurden eingeschmolzen, in Barren gegossen und mit dem königlichen Prägestempel versehen. Nach Abzug des Fünftels, der dem spanischen Königshaus zustand, wurde das Gold unter den Konquistadoren entsprechend ihrem Stand und ihrer Verdienste verteilt. Als kein Gold mehr von den Inkas kam, wurde Atahualpa hingerichtet.
 
Einige Konquistadoren gingen bei der Verteilung des Goldes leer aus, andere wollten mehr.
 
Kurze Zeit später ging das Gerücht um, östlich der Kordilleren, tief im Dschungel des Amazonas, liege ein Land verborgen, dessen Bewohner reich verzierten Goldschmuck trügen und dessen Herrscher die Gewohnheit hätte, all morgens nach dem Frühstück und vor dem Bad im See seinen Körper mit Goldstaub zu bedecken. Man nannte es das Land des El Dorado. Scharen enttäuschter und goldsüchtiger Konquistadoren machten sich auf, dieses sagenhafte Land zu finden und zu erobern. Viele von ihnen erfroren in den Höhen der Anden, starben vor Hunger oder wurden vom Fieber dahingerafft, andere brachten sich aus Missgunst und Misstrauen gegenseitig um. Einige wenige erreichten nach monatelangen Strapazen das Tiefland des Amazonas und brachten mit ihrer Goldgier die dortige Bevölkerung in Verwirrung.     
                                
Prinz von El Dorado
Kapitel 1
El Dorado
 
                                                             „Das ist ja zum aus der Haut fahren!“
                                                             (Apostel Bartholomäus)
 
Eines Nachts, irgendwo im Urwald Amazoniens
        Personen:
  
        Konquistadoren:     Guillermo de la Hierba               der Zweifelnde
                                     Alfonso de Rojas                        der Brutale
                                     Hernando Pinzón                        der Gierige
        Geistlicher:           Pater Thomas de Valverde           der Fromme
        Eingeborener:        Ruka
 
Auf einer kleinen Lichtung im Wald brennt ein Lagerfeuer. Myriaden von Insekten schwirren durch die Luft und erzeugen ein dauerndes Surren, das sich mit dem Quaken brünstiger Frösche zu einem dichten Klangteppich vereint. Hin und wieder ist der Schrei eines Brüllaffen zu hören, der, hoch oben in einem Baumwipfel schlafend, aus einem bösen Traum aufgeschreckt ist und sein Unbehagen darüber kundtut.
 
Vier Männer sitzen ums Feuer. Drei von ihnen tragen einen eisernen Brustpanzer, der vierte ist in eine braune Mönchskutte gewandt. Etwas abseits sitzt ein nackter Eingeborener, die Hände über dem Kopf an einen Baum gefesselt.
 
Über dem Feuer hängen, auf einer Lanze gespiesst, die Reste eines menschlichen Wesens.

Hernando:    „Und du bist sicher, dass sie keine Menschen sind, Hochwürden? Schliesslich haben sie fünf Finger an jeder Hand, genau wie wir.“

Hernando betrachtet das Fleischstück, das er in den Händen hält. Umständlich, so als würde es ihm viel Mühe bereiten, bis fünf zu zählen, geht er jeden einzelnen der fünf Finger durch, die aus dem leicht verkohltem Stück Fleisch ragen. Neben Hernando sitzt Guillermo und spielt mit Glasmurmeln.
 
„Eins...zwei...drei...vier...“
 
Bei Fünf angelangt stösst Hernandos Kopf vor und beisst einen der Finger ab. Er schreit auf.
 
„Aua...Gottverfluchte Scheisse...was zum Teufel...“
 
Aus seinem Mund zieht Hernando einen silbernen Ring. Verstohlen blickt er sich um. Niemand scheint ihn zu beachten. Alfonso und der Pater sind mit ihrem Essen beschäftigt, und Guillermo ist in sein Glasperlenspiel vertieft. Er ordnet die Murmeln zu seinen Füssen zu eigenartigen Mustern, die er dann mit Interesse betrachtet, als könnte er darin irgendwelche Botschaften lesen. Der Eingeborene, der etwas abseits am Baum gefesselt ist, sieht ihm dabei interessiert zu.
 
Also steckt Hernando den silbernen Ring in die Hosentasche. Kurz fasst er sich mit den Fingern an den oberen Schneidezahn, um zu prüfen, ob alles heil geblieben ist, nachdem er so vehement in den Silberring gebissen hat. Er wackelt daran, dann grunzt er befriedigt und widmet sich wieder seinem Essen.
 
Alfonso:       „Auch das Schwein hat bloss ein Arschloch. Doch ist das Schwein deswegen ein menschliches Wesen?“

Alfonso nagt genüsslich an einem gut durchgebratenen Unterschenkel, und der Saft trieft aus seinem kauenden Mund.

Guillermo betrachtet die Murmeln, die vor ihm am Boden aufgereiht liegen, und kratzt sich dabei unter seinem Kopfverband. Die Wunde, die sein fehlendes linkes Ohr hinterlassen hat, ist zwar ausgeheilt, doch manchmal, besonders bei Vollmond, juckt ihn die Narbe noch immer ziemlich böse.

Es sind grüne, gelbe und rote Murmeln, die Guillermo zu fünf Reihen geordnet hat. Aus der ersten Reihe entnimmt er eine rote Murmel und ersetzt sie durch eine gelbe aus der vierten Reihe. Dann fügt er zur fünften Reihe noch eine grüne Murmel hinzu.    
 
Damals in Cajamarca hat man ihm gesagt, mit Glasperlen liessen sich gute Geschäfte machen mit den Wilden. Die Wilden seien ganz besonders versessen auf farbige Glasperlen. Also besorgte er sich diese Murmeln, bevor sich sein Trupp zum Marsch über die Kordilleren aufmachte. Damals waren sie noch an die hundert Mann, doch das ist eine andere Geschichte.
 
Allerdings ist Guillermo bisher noch nicht dazu gekommen, seine Glasmurmeln gegen Gold einzutauschen. Und um des Nachts nicht vor Angst und Verzweiflung verrückt zu werden, hat er irgendwann sein eigenartiges Spiel mit den Glasmurmeln entwickelt.     
 
Nun hebt er alle Murmeln vom Boden auf und steckt sie in seinen Helm. Er schüttelt behutsam, so dass ein mahlendes Geräusch aus seinem Blechhelm ertönt. Dann steckt er seine Hand hinein, entnimmt dem Helm fünf Mal eine Handvoll Murmeln und sortiert sie zu fünf neuen Reihen vor ihm auf dem Boden. Sorgsam betrachtet er das so entstandene Muster aus rot, grün und gelb und runzelt die Stirn.

        „KUERBISKERNENOEL?“, murmelt er.

Die anderen Konquistadoren werfen Guillermo einen kurzen, verständnislosen Blick zu. In der langen Zeit, seit sie zusammen unterwegs sind, haben sie sich an Guillermos eigenartiges Spielchen mit den Murmeln gewöhnt, und normalerweise beachten sie es gar nicht mehr. Nur der Eingeborene scheint ganz fasziniert von Guillermos Treiben zu sein. Er schaut ihm dabei mit grossen Augen zu, wobei es ihn gar nicht zu stören scheint, dass seine Hände mit rauen Schnüren an einen dicken Ast gebunden sind.

Pater:          „Es sind Tiere, Brüder und Schwestern, unschuldig und rein sind die
 
Lämmchen unseres Herrn, kein Wort Gottes je ihr Gehör berührt, kein Tropfen Weihwasser ihre Seele, und ich bin nicht würdig, oh Herr, dass ich eingeh’ unter seinem Dach, doch sprich nur ein Wort, und mein Seehund wird gesund.“

Der Pater schleckt sich die Finger ab und bekreuzigt sich.

Alfonso lässt einen Furz fahren.

Hernando:    „Liegen schwer im Magen, die Lämmchen.“
Guillermo:   „Seele? Du sagst, sie haben eine Seele, Hochwürden?“

Das Wort „Seele“ hat Guillermo aufgeschreckt. Er hört auf, mit seinen Glasperlen zu spielen und schaut beunruhigt hoch.

Pater:          „Wir alle sind Kinder Gottes, mein Sohn, wie wir hier ehrfürchtig in seiner Herrlichkeit krepieren. Doch solange diese armselige Kreatur nicht das Wort unseres Herrn gelobt und die Weihe der heiligen Taufe erfährt, sei sie unserer Nahrungsaufnahme wohlgefällig.“

Guillermo:   „Du bist doch ein Mann Gottes, Hochwürden. Du könntest ihn doch taufen.“

Der Pater hält mit seinem Essen inne und blickt Rodolfo an.

Pater:          „Ja, das könnte ich.“
Guillermo:   „Schau dir den Jungen doch mal an. Er würde bestimmt einen prima Christen abgeben. Und das bisschen Halleluja werden wir ihm schon beibringen.“

Guillermo steht auf und geht rüber zu Ruka, der an den Baum gefesselt ist.

Guillermo:   „Na, mein Junge, jetzt sag mal schön brav: ‘Vater unser der du bist im Himmel’...“

Ruka schaut ihn verständnislos an.

Pater:          „Hab’ aber kein Weihwasser dabei.“
Guillermo:   „Dann mach doch welches. Hier, nimm das Wasser aus meiner Flasche und weihe es. Oder kannst du das auch nicht?“

Guillermo will dem Pater seine Feldflasche reichen.

Alfonso:       „Gottverfluchte Scheisse! Muss erst der verfluchte Papst ins Wasser pissen, um es heilig zu machen?“

Alfonso grölt über seinen eigenen Scherz.

Pater:          „In einer Vollmondnacht tu ein Silberstück ins Wasser und sprich die heiligen Worte des ehrwürdigen Bruders Bartholomäus, die da lauten...eh...“

Der Pater kratzt sich am Hinterkopf und versucht, sich an die heiligen Worte des ehrwürdigen Bruders Bartholomäus zu erinnern.

Guillermo:   „Na sprich schon! Wie lauten die heiligen Worte des ehrwürdigen Bruders?“
Alfonso:       „Wirst wohl noch wissen, wo Bartel den Most holt, ho, ho, ho?“
Pater:          „Wohl wahr, mein reichlich mit Klugheit gesegneter Sohn! Doch zuerst brauche ich das Silberstück.“
Guillermo:   „Silberstück...?“

Guillermo tastet seine Hosensäcke ab.

Guillermo:   „Ich hab kein Silberstück. Hat vielleicht jemand von euch...?“
Hernando:    „He, ich hab...“

Hernando zieht in einem kurzen Anfall von Begeisterung den silbernen Ring, den er in seinem Essen gefunden hat, aus der Tasche, will ihn hochheben, überlegt es sich mitten im Satz anders und denkt, dass es doch keine so gute Idee war. Verstohlen blickt er in die Runde, vergräbt den Ring in der Faust und steckt ihn wieder in die Hose.

Pater:          „Liebe Brüder und Schwestern, wir wollen unserem Herrn danken für Speis und Trank, den er uns beschert hat, und ihn um Schutz und Gnade bitten auf unserem Weg zu El Dorado. Ich lege mich nieder.“

Der Pater gähnt und legt sich hin.

Alfonso:       „Was gibt’s denn morgen zu essen?“

Alfonso rülpst und mustert den angebundenen Eingeborenen.

Hernando:    „Heut Nacht ist gar kein Vollmond.“

Hernando blickt in den Himmel und versucht zwischen den Bäumen den Mond zu erkennen.

Guillermo:   „Na dann geh’ ich mal scheissen.“

Guillermo verschwindet zwischen den Bäumen und kommt nie mehr zurück.
 
Eines Nachts, irgendwo anders im Urwald Amazoniens

        Personen:
        Eingeborene:         Noha                               der Ängstliche
                                     Ruka                               der Gerettete
                                     Hlava                              der Schwule
                                     Schamane                       der Weise
        Konquistador:        Guillermo de la Hierba     der Zweifelnde

Auf einer kleinen Lichtung im Wald sitzen vier halbnackte Männer um ein Lagerfeuer.
Etwas abseits sitzt, halb bewusstlos, ein Konquistador, die Hände über dem Kopf an einen Baum gefesselt.

Noha:          „Und du bist sicher, dass sie Götter sind, Schamane?“
Hlava:          „Was sollen sie denn sonst sein. Oder hast du in diesem Wald jemals so etwas Komisches wie ihn gesehen, mit Haaren um den Mund, einem einzigen Ohr am Kopf und einem Schildkrötenpanzer um den Bauch? Liebe Güte, schaut ihn euch doch an, Schwestern! Er ist ja so was von blass im Gesicht!“
Ruka:           „Ich habe gesehen, wie er irgendwelchen magischen Zauber machte, mit farbigen Perlen oder so.“
Schamane:   „Zauber? Was für einen Zauber?“
Ruka:           „Was weiss ich. Du bist doch der Schamane, nicht ich!“
Schamane:   „Und hat er gewirkt, der Zauber?“
Ruka:           „Keine Ahnung. Aber sie haben Koleno gegessen.“
Schamane:   „Hmm.....Glücklicher Koleno. Jetzt ist er ein Teil von ihnen.“
Noha:          „Ist Koleno jetzt auch ein Schildkröten-Gott?“
Schamane:   „Oh ja, das ist er.“
Hlava:          „Ach du meine Güte.“

Noha steht auf und ruft in den Nachthimmel.

Noha:          „He Koleno, ich hab’s nicht so gemeint, als ich dich einen blöden Affen nannte, damals als wir uns gestritten haben. Bitte nimm es mir nicht übel und verschone mich und meine Ahnen vor den Launen miesepetriger Dämonen.“

Nohas Geschrei weckt hoch oben im Wipfel des Baumes den Brüllaffen, der gerade wieder eingeschlafen ist, nachdem er aus einem bösen Traum aufgeschreckt war. Der Affe bringt sein Missbehagen über die Störung mit lautem Brüllen zum Ausdruck, bevor er wieder einzuschlafen versucht.

Noha:          „Danke Koleno, danke...“

Noha verbeugt sich kurz und setzt sich wieder ans Feuer.

Ruka:           „Es wird Zeit, dass wir nach Hause kommen. Ich habe meiner Frau versprochen, sie heute Nacht zu befriedigen.“
Schamane:   „Das kann doch Curak für dich tun.“
Ruka:           „Ach, der kann das nicht gut. Meine Frau ist nie zufrieden, wenn er bei ihr ist. Sie sagt, Curak hat einen grossen Gula.“
Hlava:          „Oh ja, das ist wahr, Curak hat einen richtig grossen Gula.“

Der Schamane und Ruka blicken Hlava von der Seite an und nicken zustimmend.

Noha:          „Was suchen diese blassen Götter hier unten? Warum bleiben sie nicht dort, wo sie hingehören?“
Schamane:   „Die Götter haben aus Versehen das gelbe Metall vom Himmel fallen lassen. Nun holen sie es sich wieder zurück.“
Ruka:           „So was Blödes! Das gelbe Metall ist doch völlig unnütz; viel zu weich, um daraus eine brauchbare Klinge zu machen ist, viel zu schwer, um es als Pfeilspitze zu gebrauchen. Es dient höchstens der Eitelkeit der Frauen, weil es so schön in der Sonne glänzt.“
Noha:          „Sind die Götter eitel?“
Schamane:   „Nun ja, ganz so unnütz ist es auch wieder nicht. Wenn man sich mit Kürbiskernennöl einreibt und dann seinen Körper mit feinem Staub des gelben Metalls bedeckt, dann hilft es ganz gut gegen Sonnenbrand.“
Hlava:          „Die armen Götter! Haben sicher alle einen bösen Sonnenbrand dort oben, so nah bei der Sonne. Zuviel Sonne ist nicht gut für die Haut.“

Hlava betrachtet Guillermo.

Hlava:          „Aber er ist doch so blass im Gesicht.“
Noha:          „Und deswegen nehmen sie sich die ganze Mühe, um herzukommen? Wegen Sonnenbrand?“
Ruka:           „Frag ihn doch.“
Noha:          „Nö, ich trau mich nicht. Ich habe Angst vor ihm. Schamane, geh du und frag ihn.“

Der Schamane steht auf und geht rüber zu Guillermo, der an den Baum gefesselt ist.

Schamane:   „Sag mal, wenn wir dir das gelbe Metall geben, wirst du dann wieder nach Hause gehen?“

Guillermo, noch immer benommen, versteht ihn nicht. Der Schamane dreht sich um zu Noha und schimpft.

Schamane:   „Du hättest ihm nicht so stark auf den Kopf schlagen sollen. Jetzt ist er beleidigt und will nicht mit uns reden.“
Noha:          „Er wollte aber in meinen Maniokgarten scheissen. So was gehört sich nicht, auch nicht für einen Gott!“
Ruka:           „Er wollte dir doch bloss einen Gefallen tun und deinen Garten düngen. Und du Blödmann musst ihm deswegen gleich eins rüberbraten.“
Noha:          „So ein Gott muss doch was aushalten können.“
Schamane:   „Hört auf zu streiten! Das bringt uns jetzt auch nicht weiter. Wir müssen ihm das geben, weswegen er hergekommen ist. Dann geht er wieder seine Wege, und wir gehen nach Hause.“
Noha:          „Ja! Dann gebe ich ein Maniokbier aus.“
Hlava:          „Von deinem blöden Cassirí kriege ich immer Blähungen.“
Ruka:           „Ich habe aber kein gelbes Metall da. Hat jemand von euch gelbes Metall?“
Noha:          „Nö...“
Schamane:   „Hmm...“
Hlava:          „Mein Kettchen gebe ich aber nicht her.“
Schamane    „Na komm schon! Zuhause mach ich dir ein neues.“
Hlava:          „Ach, Gottchen...“

Hlava macht sich an seinem Fussgelenk zu schaffen und reicht dem Schamanen ein kleines Goldkettchen.

Noha:          „Und was ist mit deiner Haarspange?“
Hlava:          „Meine Haarspange? Ihr Barbaren wollt mir meine Haarspange wegnehmen? Wie sehe ich denn aus ohne Haarspange? Meine Frisur gerät ganz durcheinander!“
Noha:          „Komm schon Liebling, es ist doch für eine gute Sache.“

Widerwillig greift sich Hlava in sein langes Haar, zieht daraus eine kleine, goldene Nadel hervor und reicht sie dem Schamanen.

Ruka:           „Und dein Ring? Was ist mit deinem Ring?“
Hlava:          „Aaaah.....Nicht meinen Ring! Tut mir das nicht an!“
Ruka:           „Hab dich nicht so, mein Schatz! Ich mag dich auch ohne deinen Ring.“

Schluchzend greift sich Hlava in den Lendenschurz und macht sich zwischen seinen Beinen zu schaffen und zieht einen goldenen Ring hervor. Mit Tränen in den Augen reicht er ihn dem Schamanen.

Der Schamane legt das Gold in einen Tonkrug und schaut es sich mürrisch an.

Schamane:   „Viel ist es nicht. Ich glaube kaum, dass es reichen wird, den Durst dieses Gottes zu stillen.“
Noha:          „Und was sollen wir jetzt tun? Ihn mit nach Hause nehmen? Die erschrecken doch alle, wenn sie ihn sehen.“
Ruka:           „Meiner Frau würde das gar nicht gefallen.“
Schamane:   „Am besten, wir geben noch anderes Metall dazu, das rote und das weisse.“

Also tun sie zu dem wenigen Gold, das sie haben, noch ihre Becher aus Zinn und ihre kupfernen Äxte in den Krug. Dann stellen sie den Krug in die Glut des Feuers, nehmen ihre Blasrohre, durch die sie normalerweise vergiftete Pfeile blasen, um einen Brüllaffen oder einen Vogel von den Bäumen zu holen, und blasen nun damit Luft in die Glut unter dem Krug, so dass die Glut weiss und heiss wird und das Metall zu schmelzen beginnt und sich miteinander vermischt. Wenn das Metall glühend heiss und flüssig ist, nehmen sie den Krug vom Feuer und gehen damit zu Guillermo.

Schamane:   „Ich weiss, dass es nicht ganz das ist, weswegen du hergekommen bist, Gott, und wir bitten dich deswegen um Verzeihung. Doch wir haben hier nicht mehr von diesem gelben Metall, welches du so begehrst. Ausserdem ist das gelbe Metall weich und schwer und dient höchstens dazu, die weibische Eitelkeit zu schüren.“

Er wirft einen kurzen, missbilligenden Blick auf Hlava. Hlava verzieht verächtlich das Gesicht und schmollt.

Schamane:   „Doch dieses hier wird fest und hart, fast so hart wie dein Schildkrötenpanzer.

Er klopft Guillermo auf den eisernen Brustpanzer.

Schamane:   „Daraus kannst du ein paar prima Pfeilspitzen machen. Oder auch einen schicken Kerzenständer, wenn es dir gefällt. Mag sein, dass es mit den Jahren etwas grünlich anläuft, doch das macht eigentlich gar nichts. Den Grünspan kannst du problemlos mit einem Lappen entfernen, den du vorher in Essig getränkt hast. Und dann schimmert es genauso hübsch wie vorher, fast so schön wie das gelbe Metall, das du hier suchst. So, und nun stille deinen Durst und geh in Frieden dahin, wo du hergekommen bist.“

Guillermo, noch immer benommen, fühlt, wie ihm jemand den Kopf nach hinten zieht und den Unterkiefer aufrisst. Er kann nur noch kurz aber heftig aufschreien, eher vor Überraschung als vor Schmerz, als er den brennenden Schmerz in der Kehle vernimmt, und danach kann er nicht mehr schreien. Guillermo geht wieder dorthin zurück, wo er hergekommen ist.
Sein Aufschrei weckt alle Affen in den Bäumen ringsherum, und ihre Empörung über die nächtliche Ruhestörung äussern sie durch lautes Gebrüll.
Das flüssige Metall fliess in seine Kehle, sprengt seinen Kehlkopf und zerfrisst die Stimmbänder, fliesst in seine Speiseröhre, durchbricht die Luftröhre, fliesst in seine Bronchien, rinnt an den Wänden seines Magens entlang und dingt bis in den dünnen Gang des Zwölffingerdarms, bevor es langsam erstarrt.

Jahrhunderte später fand man irgendwo tief im Urwald des Amazonas das Skelett eines Konquistadors. Als man den eisernen Brustpanzer vom Skelett entfernte, lag darunter zwischen den aufgebrochenen Rippen des Konquistadors, eine kleine bronzene Statue. Sie war bedeckt mit einer dicken Schicht von Grünspan.
Der Archäologe, der diese Entdeckung machte, hob die Statue behutsam aus dem aufgerissenen Brustkasten des Skelettes. Leicht erregt über seinen Fund trug er das Objekt zu seinem Zelt, wo sein Equipment aufbewahrt war. Er nahm einen Lappen, tränkte ihn mit Essig und fing an, damit sorgfältig die Schicht aus Grünspan von der Oberfläche zu entfernen, so dass sie bald glänzte und in der Abendsonne schimmerte.
Als er damit fertig war, sah er sich die Statue genauer an.
Sie stellte einen Golfspieler dar, der gerade seinen Schläger hochhielt, um damit einen Schlag zu vollführen.
Dies verwirrte den Archäologen, denn wie ein spanischer Eroberer des 16. Jahrhunderts zu einer Golftrophäe aus Bronze kam, konnte er sich schlichtweg nicht erklären.
Fragend schaute er sich um. Dann sah er einen grossen Paranussbaum, der nahe seinem Zelt aus dem Waldboden herausragte. Im Baumstamm dieses Baumes waren die Worte eingeritzt:
 
TAMAL MOSSIANI WAS HERE

Kapitel 2
Filmriss
                                                                                     „Sind die Sonnenblumen aus dem Garten verschwunden, entdeckt man                                                                                                                              das kleine Radieschen“
                                                                                      (Weisheit eines chinesischen Gärtners)

Vor langer Zeit gab es einmal eine Zeit, als niemand Zeit hatte, weil jeder seine Zeit dazu brauchte, Geld zu verdienen.
„Zeit ist Geld“, so sagten die Leute damals, und es galt geradezu als ein moralisches Verbrechen, seine Zeit zu vergeuden. Als reine Zeitverschwendung galten damals Tätigkeiten, die kein Geld einbrachten, Tätigkeiten wie zum Beispiel in der Wiese zu liegen und den Wolken beim Vorbeiziehen zuzusehen, oder an einem windigen Tag an einer Mülldeponie vorüberfliegende Plastiksäcke zu bespringen, oder im Stadtpark von einer Brücke aus auf die Köpfe von Schwänen zu spucken, oder einfach nur sinnlos vor sich hinzuträumen.
All solche Dinge konnte sich ein normaler Mensch damals nicht leisten, denn er brauchte seine Zeit dazu, um Geld zu verdienen. Die einzigen Menschen, die es sich hin und wieder erlauben konnten, ihre Zeit zu verschwenden und dem Müssiggang zu frönen, waren kleine Kinder, Rentner und jung verliebte Paare.
 
„Du stiehlst mir meine Zeit“, war damals ein gängiger Ausdruck und eine ziemlich wüste Beleidigung für einen Menschen, den man gemeinhin als Langweiler bezeichnete. Der Ausdruck „Langweiler“ wiederum kann nicht eindeutig klassifiziert werden, denn ein Mensch, dessen Weile lang ist, müsste in einer Welt, in der Zeit Geld ist, ein reicher Mann sein. Sollte sich „Langweiler“ hingegen auf eine Person beziehen, welche die Zeit anderer Leute zu verlängern vermag, so müsste dieser Ausdruck eher ein Kompliment bedeuten anstatt einer wüsten Beleidigung.
 
Zu jener Zeit, als niemand Zeit hatte, weil jeder seine Zeit dazu brauchte, Geld zu verdienen, lebte ein Mann, der es fertiggebracht hatte herauszufinden, wie man die Zeit anderer Leute stiehlt.
Vladimir Sikorsky war ein äusserst unauffälliger Mensch. Sollte man ihn beschreiben, so wäre das Einzige, das man mit Sicherheit über ihn sagen könnte, dass er über absolut keine besonderen Merkmale verfügte. Alles Äussere an ihm schien absolut gewöhnlich, beinahe augenfällig durchschnittlich, gar verdächtig mittelmässig zu sein. Sikorskys äussere Erscheinung war die wahrhaftige Verkörperung des statistischen Mittelwertes. Das einzig Auffallende an ihm war, dass er absolut unauffällig war.
Er war mittleren Alters, von mittlerer Statur und war weder korpulent noch ausgesprochen schlank. Sein Haar war weder dicht noch licht, weder hell noch dunkel, und er trug es mittellang. Seine dezent blauen Augen waren leicht kurzsichtig, und er trug eine schlichte Hornbrille in diskretem Braun.
Er hatte keine besonderen Angewohnheiten, trank nicht und rauchte nicht, ausser mal für kurze Zeit, als es Mode war, Pfeife zu rauchen, da rauchte er Pfeife, und als es en vogue war, Schnurrbart zu trage, liess er sich einen aparten Oberlippenbart wachsen.
Er fuhr einen grauen Opel Astra, als es das meistverkaufte Auto der Saison war. Als er dann heiratete und die Kinder zur Welt kamen, kaufte er einen Renault Magellan, da es zu jener Zeit das beliebteste Familienfahrzeug war. Er trug mit Vorliebe graue Anzüge, die sich einzig in ihren Graustufen leicht unterschieden, war verheiratet mit einer unscheinbaren Frau und hatte zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Beide waren ganz normal.
 
Die Sikorskys bewohnten ein kleines, bescheidenes Haus in einer schlichten Reihensiedlung am Rande eines mittelgrossen Städtchens, wo Vladimir am Gymnasium als Biologielehrer tätig war.
Barbara, Vladimirs Frau, war nicht berufstätig. Früher war sie Sprechstundenhilfe in einer Zahnarztpraxis. Dort lernten sie sich kennen. Nachdem sie geheiratet hatten und die Kinder zur Welt kamen, gab sie ihre Arbeit auf und begnügte sich damit, sich um den Haushalt und die Kinder zu kümmern. Das wiederum gab Vladimir den Freiraum, den seine nebenberufliche Tätigkeit beanspruchte.
 
Ihren Nachbarn war anfangs nichts Aussergewöhnliches aufgefallen. Die Sikorskys galten als freundliche aber unaufdringliche Leute, und wären sie eines Tages einfach wortlos weggezogen, so wäre es wahrscheinlich kaum jemandem aufgefallen.
„Haben Sie gehört, die Sikorskys sind weggezogen!“, hätte Frau Neugebauer von nebenan zu Frau Hofstetter gesagt.
„Ach so? Wie schade, die waren ja so nett!“, hätte Frau Hofstetter geantwortet, und damit wäre das Thema auch schon abgehackt, und Frau Neugebauer und Frau Hofstetter würden sich wieder über die neuste Bademode unterhalten.
 
Nicht etwa, dass die Sikorskys Einzelgänger waren, die sich vor ihrer Umwelt abschotteten. Sie hatten durchaus soziale Kontakte, plauderten mit den Nachbarn über das Wetter, gingen hin und wieder ins Theater oder ins Kino und luden manchmal sogar Freunde zu sich zum Abendessen ein, wo sie gewöhnlich ein Fondue servierten, das absolut gewöhnlich war.
Die Sikorskys allerdings wurden so gut wie nirgendwohin eingeladen, und die Leute, die sie als ihre Freunde bezeichneten, meldeten sich kaum jemals bei ihnen. Die Sikorskys störten sich nicht daran. Im Gegenteil; es erschien ihnen ganz normal.
Barbara besuchte einmal die Woche einen Kurs für modernen Jazz-Tanz. Ausserdem war sie im Mütterverein engagiert und backte manchmal Kuchen oder Kekse für die jährlich stattfindende Tombola, die Kinder gingen ganz normal zur Schule und fielen dort nicht überhaupt nicht auf, und Vladimir war Mitglied des kantonalen Vereins der Pilzfreunde.
Eigentlich war er dort beigetreten, um sich besser in seiner Umgebung zu integrieren und nicht als Sonderling aufzufallen, denn als Gymnasiallehrer hatte er gewisse gesellschaftliche Verpflichtungen, denen er sich nicht entziehen konnte. Zwar interessierten ihn Pilze nicht besonders, doch Vladimir hatte sich vorgestellt, Pilzliebhaber seien einfach gestrickte Leute, unter denen er kaum auffallen würde. So war es auch. Allerdings wurde er eines Tages zum Präsidenten des Vereins für Pilzfreunde gewählt; wahrscheinlich gerade deshalb, weil er so unauffällig war.
 
Die Sikorskys waren eine ganz gewöhnliche Familie in einem ganz gewöhnlichen Vorort einer ganz gewöhnlichen Kleinstadt, und nichts deutete darauf hin, dass irgendetwas Ungewöhnliches in dieser Familie stattfinden könnte. Wie ein Wassertropfen auf dem Lotusblatt entwichen die Sikorskys jeglicher Erinnerung ihrer Umwelt.
 
Vladimir hatte Naturwissenschaften studiert. Er war eigentlich promovierter Physiker. Die Stelle als Biologielehrer am Gymnasium hatte er nur deshalb angenommen, weil ihm dies als aussichtsreich ruhiger Posten erschien, wo seine Arbeit überhaupt nicht ins Gewicht fiel, keine besonderen Aktivitäten erforderte, keine hohen Wellen schlagen würde und somit völlig unauffällig war.
Unter seinen Arbeitskollegen galt er als ziemlich farblos und fad, doch ansonsten sehr korrekt. Ebenso dachten seine Schüler.
Diese Anstellung als Lehrer am Gymnasium bot ihm zusätzlich eine Menge Freizeit, und jeden freien Tag und nahezu die gesamten Schulferien nutzte er für sein ungewöhnliches Steckenpferd.
Vladimir Sikorsky erforschte das Wesen der Zeit. Die Zeitforschung war seine grosse Leidenschaft, und niemand, nicht einmal seine Frau, ahnte, welche Ausmasse seine Besessenheit von der Zeit eines Tages annehmen würde.
Anfangs war sein Interesse für die Zeit nur so was wie ein harmloses Hirngespinst. Er beschäftigte sich mit den Werken grosser Physiker wie Einstein, Heisenberg oder Stephen Hawking, die sich im Wesentlichen mit der Wesensart der Zeit und deren Verhältnis zu Raum und Materie auseinandersetzten.
Seine Forschung war damals rein theoretischer Art. Er stellte Berechnungen an, um die Beschaffenheit der Zeit zu ergründen, verglich seine Ergebnisse mit den Literaturangaben und leitete aus den Ergebnissen Formeln her, die das Verhältnis von Zeit, Raum und Materie beschrieben.
Auch hatte er es nicht versäumt, sich auch mit Publikationen von unbedeutenden Spinnern auf dem Gebiet der Zeitforschung auseinander zu setzen, die in trivialen, pseudowissenschaftlichen Magazinen veröffentlicht wurden. In sozialen Medien konnte er erstaunlich gut Fakenews von relevanten Publikationen unterscheiden, doch auch das Lesen profaner Science-Fiction Literatur brachte ihn zu so manch erstaunlichen Erkenntnissen.
 
Eines Tages, als sich Familie Sikorsky zwecks Wanderferien in den österreichischen Alpen aufhielt, machte Vladimir seine entscheidende Entdeckung. In einem Innsbrucker Antiquariat stiess er zufällig auf die Manuskripte des österreichischen Physikprofessors Erwin Schrödinger, welche dieser in seinen letzten zwei Lebensjahren verfasst hatte, nachdem er sich, nicht zuletzt aus Enttäuschung darüber, dass ein anderer Physiker namens Albert Einstein fast all seinen Erkenntnissen zuvorgekommen war, in die Abgeschiedenheit der Tiroler Bergwelt zurückgezogen hatte.
Diese unbekannten Manuskripte schlossen einige Lücken, die Sikorskys Wissen über die Beschaffenheit der Zeit aufwies. Sie gaben seiner Forschung die entscheidenden Impulse. Erst danach wurde es ihm möglich, vom rein mathematisch-theoretischen Studium der Zeit zum experimentellen Schaffen überzugehen.
 
Seine beste Quelle der Inspiration allerdings waren eben diese billigen Magazine der Pseudowissenschaften mit Veröffentlichungen von Leuten, die in der seriösen Welt der Wissenschaft kaum Beachtung fanden. Bestenfalls galten sie als verschrobene Idioten, über die man mitleidig lächelte, welche aber kein anständiger Wissenschaftler ernst nehmen konnte.
Zu dieser Sorte von Spinnern zählte ein seltsamer Autor namens Tamal «die Drohne» Mossiani. Die Vielzahl seiner Publikationen las sich wie schmutzige Schundromane mit einem Hang zu vollbusigen Blondinen in verzwickten Situationen, und eigentlich waren sich all seine Geschichten ziemlich ähnlich. Meist begannen sie mit einem unerklärlichen, kosmischen Blitz, der die gesamte männliche Erdbevölkerung unfruchtbar machte, bis auf den Helden der Geschichte, von dem Mossiani in der Ich-Form schrieb, und der dann im weiteren Verlauf der Geschichte die Aufgabe hatte, den Fortbestand der Menschheit zu sichern. Dies bescherte dem Autor seinen eigentümlichen Beinamen.
Zwischen solchen schlüpfrigen Episoden jedoch beschrieb Tamal «die Drohne» Mossiani so manches Mal erstaunliche Details über die Beschaffenheit der Zeit, so dass sich Sikorsky manchmal fragte, ob nicht Mossiani schon lange vor ihm diese Erfindung gemacht haben könnte, mit welcher man anderen Leuten ihre Zeit stehlen kann.
 
Ganz abstrakt und sehr vereinfacht dargestellt kann man sich die Zeit eines Lebewesens vorstellen wie ein langes, schmales Band aus Papier. Der Anfang des Papierbandes stellt die Geburt der Kreatur dar, das Ende des Bandes ist dessen Tod. Und die Gegenwart ist ein schmaler, senkrechter Balken, welcher an diesem Band entlangläuft und ihn abtastet wie der Tonkopf einer Tonbandmaschine.
Die Geschwindigkeit des Balkens ist nicht immer regelmässig. Deshalb erscheinen uns manche Momente endlos lang, und andere scheinen uns wie im Flug zu vergehen. Tendenziell aber nimmt das Tempo der Gegenwart stetig ab, so dass die Kindheit und Jugend uns sehr schnell entschwindet, in alten Jahren uns aber die Zeit richtiggehend unter den Füssen kleben zu bleiben scheint.
Dies bezieht sich lediglich auf das subjektive Zeitempfinden, und jeder Mensch empfindet die Dauer eines Ereignisses ganz anders. Doch spätestens seit Einstein seine Relativitätstheorien aufstellte, wissen wir, dass die Zeit auch objektiv von bestimmten Faktoren wie Materie und Geschwindigkeit abhängig ist.
So verläuft beispielsweise die Zeit bewegter Objekte langsamer als die Zeit ruhender Objekte, und bewegt sich ein Objekt gar mit Lichtgeschwindigkeit, so bleibt dessen Zeit beinahe ganz stehen.
Nimmt man andrerseits eine äusserst präzise Uhr und hebt mit ihr von der Erde ab, so dass sie für eine Weile weder der Erdanziehung noch der Gravitation anderer grosser Materiebrocken ausgesetzt ist und kommt dann mit der Uhr wieder zur Erde zurück, vergleicht dann die Uhr mit einer andern äusserst präzisen Uhr, die währenddessen auf der Erde verblieben ist, so wird man feststellen, dass die Uhr, die draussen im Weltraum war, scheinbar etwas vorgeht.
 
Die Sekunde ist durchaus keine absolute Zeiteinheit. Ganz egal, ob man sie mittels präziserster Atomuhren definiert, die auf der Strahlungsschwingung eines zerfallenden Cäsium-133-Isotopes beruht, ob man die Dauer der Erdrotation um die Sonne zu Hilfe nimmt, um die exakte Länge eines Erdenjahres zu ergründen, oder ob man die Zeit misst, die das Licht im Vakuum über eine bestimmte Strecke zurücklegt. Die Sekunde ist eine ziemlich elastische Masseinheit, ein dehn-, streck- und beugbares Ding aus Gummi, und daran werden auch die genausten Messmethoden nichts ändern.
 
Eigentlich hat dies bereits vor Tausenden von Jahren ein Grieche namens Pythagoras herausgefunden, der sich unter anderem mit Musik beschäftigte. Er stellte fest, dass wenn er sich von einem bestimmten Grundton aus zwölf Mal mit einer reinen Quinte des jeweils neu entstandenen Tones vorwärts bewegt, er dann nicht wieder exakt auf den ursprünglichen Grundton zurück kommt, wie es in einem Quintenzirkel eigentlich sein müsste, sondern diesen Grundton um den Faktor 1.0136 verfehlt.
Diesen Faktor nennt man das Pyhtagoräische Komma, und bis heute macht er Klavierstimmern, Orgelbauern und Musikern zu schaffen, obschon man bereits im Frühbarock das Pythagoräische Komma mittels wohltemperierter Stimmung zu überlisten versuchte.
Ist man sich jedoch bewusst, dass in der Akustik der Ton mittels der Masseinheit Hertz definiert wird und diese Masseinheit in Anzahl Schwingungen pro Sekunde ausgedrückt wird, so könnte man daraus schliessen, dass diese Anomalie auf die Elastizität der Zeiteinheit zurückzuführen sein könnte.
Dieses erstaunliche Phänomen von der Elastizität der Zeit wird von der Wissenschaft Zeit-Dilatation genannt. Sie macht es prinzipiell möglich, die Zeit zu manipulieren. Und genau das machte sich Vladimir Sikorsky zunutze, als er seinen Apparat baute, mit dem er die Zeit anderer Leute zu stehlen vermochte.
 
Doch kehren wir wieder zurück zu unserer abstrakten Vorstellung von der Zeit als mehr oder weniger langes Band aus Papier, und statt Papier stellen wir uns nun besser ein Band aus Gummi vor, um der elastischen Eigenschaften der Zeit gerecht zu werden. Dieses Modell kann uns nun auch das subjektive Zeitempfinden eines Individuums besser veranschaulichen.
Wir hatten uns die Gegenwart als Tonkopf vorgestellt, der in seinem steten Gang das Zeitbandes eines Individuums abtastet, von der Geburt des Individuums bis zu seinem Tod.
Übt nun der Tonkopf während der Abtastung einen gewissen Druck auf das Band aus, so dehnt sich das Gummiband unter diesem Widerstand hinter dem Tonkopf etwas in die Länge, während vor dem Tonkopf sich das Band leicht zusammenzieht. Für einen Moment erfolgt nun die Abtastung des Tonkopfs langsamer, und zwar so lange, bis sich der Zustand zwischen Kontraktion und Expansion des Bandes stabilisiert hat. Verringert sich der Druck des Tonkopfs wieder und somit auch der Widerstand, so kehrt das Band in seinen ursprünglichen Zustand zurück. In dieser Phase verläuft der Tonkopf schneller über das Band, bis sich auch dieser Zustand des Bandes stabilisiert hat.
Vergessen wir nicht: Der Tonkopf ist die Gegenwart, hinter dem Tonkopf ist die Vergangenheit, und davor liegt die Zukunft. Während Phasen höheren Widerstandes zwischen Band und Tonkopf verläuft die Gegenwart also langsamer als während Phasen kleineren Widerstandes. Dass die Zukunft und die Vergangenheit bei diesem Vorgang jeweils komprimiert respektiv expandiert werden, ist eine andere Geschichte. Auf die Gegenwart hat dies bisher keinen Einfluss, da diese Orte von hier aus kaum zugänglich sind.
 
Nicht nur Menschen, auch Tiere und Pflanzen, ja gar alle Lebensformen verfügen über ähnliche Zeitbänder. Der wesentliche Unterschied von einer Spezies zur andern besteht hauptsächlich in der Geschwindigkeit der Gegenwartsabtastung.
 
Als Sikorsky seine ersten praktischen Experimente mit der Zeit anstellte und sich in einem Selbstversuch ein Stück des Zeitbandes einer Schildkröte injizierte, war er erstaunt, wie rasend schnell sich alles in seiner Umgebung bewegte. Er konnte vom blossen Auge die Bewegung des Stundenzeigers seiner Armbanduhr wahrnehmen, während der Minutenzeiger seine Kreise zog, als würde er die Sekunden anzeigen.
Der Schatten der Sonne, die durchs Fenster in sein Arbeitszimmer schien, wanderte über den Fussboden, und Vladimir blickte gebannt nach draussen zum blauen Himmel empor, an dem Wolkenfetzen vorüber sausten.
 
„Was hat denn Fritz hier zu suchen?“, hörte er jemanden hinter seinem Rücken sagen.
 
Zuerst erkannte er die Stimme nicht. Sie war unnatürlich hoch, schrill und sprach sehr schnell.
Fritz war der Name der Schildkröte, und die Schildkröte gehörte Sebastian, dem kleinen Sohn der Sikorskys, und eigentlich gehörte Fritz ins Terrarium im Kinderzimmer. Doch nun lag Fritz auf Vladimirs Arbeitstisch und kaute gelangweilt an einem Salatblatt.
Vladimir fiel es sichtlich schwer, sich umzudrehen und dem Gang seiner Frau zu folgen, welche eigentlich nur seinen Papierkorb leeren wollte.
Vladimir wollte ihr etwas entgegnen und machte den Mund auf. Doch aus seinem Mund kam nur ein tiefes Dröhnen.
Dass Sikorskys Gattin beim Anblick ihres Mannes in diesem Zustand mächtig erschrak und im ersten Moment befürchtete, ihr Mann hätte einen Schlaganfall erlitten, hat ihm im Nachhinein ziemlich amüsiert.
 
Noch langsamer als bei Schildkröten verläuft die Gegenwartsabtastung bei Schnecken, Regenwürmern und pflanzlichen Lebensformen, was einem zu der irrigen Edithhme führen könnte, dass die Geschwindigkeit der Gegenwart im Zusammenhang stehen könnte mit der Höhe der Lebensform einer Spezies.
Dies ist aber nicht der Fall. So ist beispielsweise die Abtastfrequenz von Spatzen und Stubenfliegen wesentlich höher als die des Menschen, und als Sikorsky einen Selbstversuch mit dem Zeitband einer Spitzmaus anstellte, konnte er in derselben Zeit, wie seine Frau ein Glas mit Wasser füllte, eine ganze Packung mit Keksen aufessen.
 
Sikorskys Erfindung beruhte darauf, dass er imstande war, das Zeitband eines Lebewesens mit einer Art Schere zu durchschneiden. Tat er dies gleichzeitig an zwei Stellen, so konnte er aus diesem Zeitband ein kleines Segment herauslösen und es in einem Einmachglas konservieren. Das zerschnittene, ursprüngliche Zeitband des bestohlenen Individuums fügte sich nach diesem Eingriff wieder von selbst zu einem Ganzen zusammen.
Das so seiner Zeit beraubte Versuchsobjekt bemerkte nichts von dieser Prozedur, denn die Segmente, die Sikorsky herausschnitt, waren zumindest anfangs seiner Feldversuche ziemlich klein und entsprachen der Grössenordnung von ungefähr 13 Sekunden. Im schlimmsten Fall kriegte das Opfer den Eindruck, kurz eingenickt zu sein.
 
Sikorskys Zeitschere war ein unförmiger Apparat, in dessen Innerem kleine Pendel, Kreisel und Spiegel rotierten und dauernd irgendwelche merkwürdigen Geräusche produzierten. An diesem Apparat war etwas wie ein Rüssel angebracht, der in eine Art Saugstutzen mündete. Das Ding erinnerte etwas an einen bizarren Staubsauger.
 
Natürlich handelt es sich bei dem Zeitsegment, das Sikorsky mit seiner Zeitschere einfing, in Wirklichkeit weder um ein Stück Papier noch um ein Band aus Gummi. Es hat überhaupt keine konkrete Form, keine feste Konsistenz und keine deutlichen Umrisse. Wenn man es so eingesperrt im Einmachglas betrachtet, dann kommt es einem eher vor, als würde man an einem heissen Sommernachmittag über eine asphaltierte Landstrasse hinweg den Horizont betrachten, wo die Luft von der Hitze erregt leicht flimmert. So ein ähnliches Flimmern kann man auch in diesem Einmachglas erkennen, wenn man ganz deutlich hinschaut.
 
Sikorskys erste Selbstversuche beruhten auf dem Prinzip, das gestohlene Zeitsegment über das eigene Zeitband zu legen und anstatt der eigenen Gegenwart innerhalb dieser 13 Sekunden die Gegenwart des Bestohlenen zu erleben. Dies lief natürlich synchron zur allgemein ablaufenden Gegenwart ab, denn die Gegenwartsabtastung verlief während dieser 13 Sekunden nicht über das eigene Band, sondern über dasjenige des Bestohlenen, welches das eigene Band überdeckte. Dabei gingen die 13 Sekunden der eigenen Gegenwart verloren.
 
Später, nachdem es Sikorsky auch gelungen war, die Grösse der gestohlenen Zeitsegmente erheblich zu steigern, war er auch in der Lage, das Fremdsegment nicht wie bis anhin über das eigene Zeitband zu legen, sondern es darin einzufügen. Am einfachsten kann man sich das so vorstellen, dass man mit einer Schere ein Stück des Tonbandes durchschneidet und an den Schnittstellen ein kleines Stück eines anderen Bandes hinzu klebt. Man verlängert also das ursprüngliche Band um die Länge des neuen Stückes. Und somit kann man, während die Zeit für die Umgebung scheinbar stillsteht, bis zu sieben Minuten der Zeit eines anderen Individuums erleben.
 
Eigentlich kam Sikorsky notgedrungen auf diesen Einfall mit dem Einbetten des Fremdsegments. Denn seit seinen letzten Selbstversuchen mit längeren Zeitbändern, die er im zoologischen Garten, einem Kindergarten und in einer Synagoge gestohlen hatte, machte seine Frau merkwürdige Bemerkungen über sein eigenartiges Verhalten.
 
„Manchmal machst du mir richtig Angst, Vladi. Ist etwas nicht in Ordnung mit dir?“
 
Es war schwierig, sie nach solchen Erlebnissen zu beruhigen, und einmal, als sie ihn dabei ertappte, wie er gerade mit der gestohlenen Zeit eines Pavians experimentierte, jagte er ihr eine Heidenangst ein. Danach musste er ihr versprechen, gleich am nächsten Tag einen Arzt aufzusuchen.
Doch seit seiner Entdeckung, dass man fremde Zeitsegmente nicht über das eigene Zeitband legen muss, sondern sie darin einfügen kann, hatte er überhaupt keine Probleme mehr.
 
„Magst du einen Kaffee, Vladi?“, fragte Barbara durch die halboffene Tür seines Arbeitszimmers.
 
Vladimir stand auf einem Hügel und hielt einen Stock in der Hand. Am Stock aufgerollt war eine Schnur, und an dieser Schnur schwebte hoch oben im Himmel ein roter Papierdrache. Es wehte ein milder Wind. Vladimir war ein neunjähriger Junge in kurzen Hosen, T-Shirt und Baseball-Mütze. In seinem Kopf war pure Unschuld, Unwissenheit und Glückseligkeit in seinem Herzen. Er sah zum Himmel empor, sah die Schäfchenwolken vorbeisegeln, und davor machte sein roter Papierdrachen schwankende Bewegungen nach links und rechts und wedelte mit seinem Schwanz aus bunten Papierbändern. Plötzlich kam ein kurzer, kräftiger Windstoss, und der Drachen zog heftig an der Schnur und riss Vladimir den Stock mit der Schnur aus der Hand. Der Drache am Himmel vollführte eine Drehung um sich selbst, stieg einen Moment lang noch höher in den Himmel, dann neigte er sich plötzlich zur Seite, und nach einem rasenden Sturzflug krachte er ins Geäst einer mächtigen Eiche und zerschellte. Am Stamm der Eiche waren die Worte eingeritzt:
 
TAMAL MOSSIANI WAS HERE
 
„Ja gern, mein Schatz,“ antwortete Vladimir.
„Und da ist noch der Kuchen von gestern. Soll ich dir ein Stück davon abschneiden?“

Kapitel 3
Golf                                   
                                                                                                      „Wenn wir es nicht tun, dann tut es jemand anders.“
                                                                                                      (viertes Gebot der freien Marktwirtschaft)
                                                                      
Die Gesetze der Gravitation und der Dynamik fester Körper schienen für Paolos Bälle keine Gültigkeit zu haben. Ganz egal, wie schlecht er den Ball traf, ganz egal, ob er den Ball direkt mit dem Eisen traf, oder ob er eigentlich eher in die darunter liegende Grasmatte hieb; es schien fast so, als ob der Ball von Gott persönlich geführt worden wäre. Der Ball sauste hoch, zischte durch die Luft und landete auf dem Grün unmittelbar neben der Fahne, bereit zum Einlochen.
 
Paolo waren bereits 7 Birdies gelungen und ganze 4 Eagles, bei denen er aus einer Distanz von über 50 Metern den Ball direkt ins Loch beförderte. Bei Loch neun, immerhin ein Par-3-Loch von 200 Metern, gelang ihm gar ein Ass; vom Abschlag weg beförderte Paolo den Ball mit einem einzigen Schlag direkt ins Loch.
 
Solche Glücksschüsse kommen in diesem Sport hin und wieder vor, und jeder Golfspieler verfügt über eine gewisse Anzahl mehr oder weniger glaubwürdiger Anekdoten darüber, wie er von einer hoffnungslosen Position aus dem Ball direkt einlochte, welche er bei passender Gelegenheit süffisant von sich gibt.
 
Doch in ein und demselben Spiel gleich fünf solcher Treffer zu erzielen, das war schon sehr ungewöhnlich und grenzte geradezu an ein Wunder.
 
Fernando, Paolos Golfjunge, bekreuzigte sich jedes Mal nach solch einem Schlag und murmelte ein Gebet. Seit über 30 Jahren war Fernando als Caddie auf dem Clubgelände von Santa Maria del Mar tätig. In diesen 30 Jahren hatte er die Taschen mit den Schlägern der besten Profi-Golfer aus aller Welt geschleppt. Er kannte den Kurs in und auswendig und konnte den Spielern so manchen nützlichen Rat geben, was die Bodenbeschaffenheit, die Windverhältnisse oder den Neigungswinkel des Geländes betraf. Doch so etwas, wie Paolos Bälle, hatte er noch nicht erlebt.
 
Von Loch zu Loch scharten sich mehr Leute in den Zuschauerzonen um Paolo und seinen Caddie, und seit Loch 13, als Paolo einen unglaublichen Eagle aus dem Pinienwäldchen heraus zauberte, liessen ihn die Reporter und die Kamerateams nicht mehr aus den Augen.
 
Bei Loch 17 lag Paolo mit einem Zwischenergebnis von 13 unter Par deutlich in Führung, drei Punkte vor dem amtierenden Champion Brian O’Hara und dem Weltranglisten-Zweiten Herbert Shorter. Es lag nur noch ein letzter Kurs vor ihm, und dann würde er das Turnier als Sieger beenden.
 
Eigentlich sollte Paolo beim diesjährigen Turnier von Santa Maria del Mar gar nicht gesetzt sein. Es spielten nur die besten Profi-Golfer der Welt um die begehrte Trophäe und das damit verbundene Preisgeld, und Paolos Name war in der Weltrangliste des Golfsports überhaupt nicht aufgeführt. Immerhin hatte Paolo ein Handicap von 11, was für einen Amateur recht ordentlich ist, ihn aber noch lange nicht legitimiert, an einem Profi-Turnier teilzunehmen.
Doch der Club gehörte Roberto Escobar, einem der reichsten Männer des Landes. Das war Paolos Vater. Und so konnte es Paolo einrichten, dass er am diesjährigen Turnier teilnehmen durfte.
 
Das Preisgeld für den Sieger war auf fünf Millionen Dollar angesetzt. Und das war genau die Summe, die Paolo dringend brauchte, um seine Schulden zu begleichen.
Mit seinen heimlichen Geschäften hatte er sich ziemlich verspekuliert, und nun sass er böse in der Tinte. Spätestens bis morgen musste er die Summe auftreiben, sonst drohten ihm ernsthafte Schwierigkeiten.
Natürlich hätte er seinen Vater um das Geld bitten können. Fünf Millionen Dollar mehr oder weniger hätten den alten Herrn überhaupt nicht gekratzt. Doch dann hätte Paolo seinem Vater verraten müssen, wozu er das Geld brauchte. Und würde sein alter Herr erfahren, dass Paolo hinter seinem Rücken Geschäfte mit Emilio Reyna, dem Weihnachtsmann machte, dann wäre das, was Roberto Escobar mit seinem Sohn machen würde, nicht viel angenehmer als das, was der Weihnachtsmann ihm angedroht hatte, falls er ihm das Geld nicht bis morgen zurückzahlen würde.
 
Paolos Mutter war früh verstorben. Er konnte sich kaum an sie erinnern. Der Vater war zu sehr mit seinen Geschäften beschäftigt, um wieder zu heiraten. Dennoch war er stets bemüht, seinen Kindern eine gute Erziehung anzueignen und sie gleichzeitig weitgehend von seinen Geschäften fernzuhalten. So ist Paolo gemeinsam mit seinen vier Brüdern und drei Schwestern wohlbehütet aufgewachsen in einer heilen Welt zwischen Kindermädchen, Swimmingpool und Hauslehrern.
 
Die Villa, welche die Familie bewohnte, war von der Aussenwelt hermetisch abgeschirmt und wurde Tag und Nacht von einer Privatarmee bewacht. Womit sich seine Familie solch einen luxuriösen Lebensstandard inmitten einer armseligen Welt erwirtschaftete, davon hatte Paolo lange Zeit keinen blassen Schimmer.
Mit 16 Jahren schickte man ihn an eine noble Privatschule in die Schweiz. Paolos Vater sah es gern, wenn sich jeweils eins seiner Kinder in der Nähe seines Vermögens aufhielt. Vor ihm waren schon seine zwei älteren Brüder dort gewesen, und nach ihm folgten auch seine jüngeren Geschwister.
In der Schweiz erhielt Paolo eine gründliche Ausbildung. Dort entdeckte er aber auch seine Leidenschaft für italienische Sportwagen, das weiblichen Geschlecht und für den Golfsport, dem er mit Hingabe frönte.
Als er mit 21 Jahren zurückkam, wollte ihn sein Vater nach Amerika schicken, wo er an einer renommierten Universität Jura studierten sollte. Doch dem hatte sich Paolo erfolgreich widersetzt. Er drängte darauf, endlich in die Geschäfte seines Vaters eingeweiht zu werden. Vergeblich.
Also machte er stattdessen mit seinem roten Ferrari die Strassen von Santa Maria und Umgebung unsicher, lungerte mit seinen nichtsnutzigen Freunden in zwielichtigen Kneipen herum und widmete sich dem Golfsport.
 
Sein Lebenswandel missfiel dem Vater. In der Hoffnung, Paolos jugendlichen Leichtsinn etwas abzukühlen, drängte er ihn zur Heirat.
Paolo hatte diesbezüglich keine grossen Ambitionen. Auch hatte er keine festen Bindungen zu Mädchen seines Alters. Seine Beziehungen zu Frauen beschränkten sich auf kurzfristige Kontakte in Bars und Bordellen. Trotzdem liess er seinen Vater gewähren.
Seine junge Angetraute, ein hübsches, jedoch stets traurig wirkendes, grünäugiges Mädchen namens Esmeralda, wurde ihm von seinem Vater ausgewählt. Die beiden hatten sich vorher noch nie gesehen. Im Gegensatz zu Paolo kam Esmeralda aus äusserst ärmlichen Verhältnissen. Sie war Waise und war auf der Strasse aufgewachsen. Eines ihrer grünen Augen war aus Glas, und ausserdem hatte sie eine lange Narbe auf der linken Seite ihres Bauches, wo ihr eine Niere fehlte. Paolo hatte keine Ahnung, warum sein Vater ausgerechnet sie ausgewählt hatte. Doch war ihm das auch egal.
Die Heirat änderte nicht viel an Paolos Lebenswandel. Obwohl Esmeralda zwei Kinder von Paolo zur Welt brachte, ging er weiterhin seiner gelangweilten, ungezwungenen Lebensart nach.
 
Aus purer Langeweile, jedoch auch aus Trotz, weil sein Vater ihm immer noch nicht gestattete, an seinem Geschäftsleben teilzuhaben, ging Paolo auf eigene Faust einige Handel ein, die sich anfangs vielversprechend anhörten. Es waren keine sauberen Geschäfte. Es ging um Drogen, Glücksspiel, Waffen und Prostitution. Doch die Geschäfte seines Vaters waren nicht viel anders gelagert, soviel hatte er zumindest bereits herausgefunden.
Paolo wollte seinem alten Herrn aber unbedingt beweisen, dass auch er in der harten Geschäftswelt durchaus seinen Mann stehen könne. Und so investierte er heimlich Geld, das ihm nicht gehörte, in dubiose Geschäfte, die sich anfangs sehr vielversprechend anhörten, die ihn aber schlussendlich weit überforderten.
So ist dann einiges schiefgelaufen, und nun sass Paolo ausgerechnet bei Emilio Reyna, dem grössten Konkurrenten seines Vaters, mit fünf Millionen in der Kreide. Und Emilio Reyna, genannt ‚der Weihnachtsmann’, da er das Kokainkartell beherrschte und somit der Herr des Schnees war, war bekannt dafür, seine Schulden gründlich einzutreiben.
„Was meinst du, Fernando, soll ich den Eagle versuchen oder auf Nummer sicher gehen?“, fragte Paolo seinen Caddie um Rat. Sein Ball lag unmittelbar vor dem letzten Loch, etwa 70 Meter davon entfernt.
 
„Es wäre gefährlich, direkt aufs Loch zu zielen, Señor Escobar. Wenn der Ball daran vorbeizieht, dann läuft er den Hang hinunter in den Sandbunker. Wenn Sie zu weit nach links ziehen, dann landet er womöglich im Teich. Ich würde Ihnen vorschlagen, den Ball zuerst vorsichtig rechts ans Loch zu platzieren, wo der Boden einigermassen eben ist. Sie können dann immer noch in aller Ruhe einen Birdie spielen und gewinnen.“
 
„Nun, ich denke, bei meinem heutigen Glück kann überhaupt nichts schief gehen. Gib mir Eisen sieben.“
 
Fernando verzog das Gesicht und nahm widerwillig das Eisen Nummer sieben aus der Tasche, einen Treiber für mittlere Distanzen.
 
„Dios mio, wenn das nur gut geht“, brummte Fernando und reichte den Schläger seinem Chef.
„Keine Sorge, Alter! Schliesslich liege ich mit 3 Punkten vorn.“
„Gerade deshalb sollten Sie vorsichtig sein, Señor Escobar.“
 
Paolo stellte sich mit dem Schläger in der Hand neben den Ball. Er befeuchtete einen Finger im Mund und streckte ihn in die Höhe, um die Windrichtung zu ermitteln. Dann kniff er die Augen zusammen und prüfte nochmals die Distanz zum Loch. Mit beiden Händen umfasste er nun fest den Griff des Schlägers, spreizte die Beine etwas auseinander, beugte sich leicht nach vorne, wippte einige Male mit dem Schläger vor dem Ball, um das Gefühl für dessen Gewicht und die Wucht des folgenden Schlages in seine Hände zu bekommen, und blickte nochmals kurz zur Fahne rüber, die das letzte Loch markierte.
Dann hob er den Schläger nach links hoch und zog ihn in einer kräftigen Schlaufe voll durch. Ein Raunen ging durch die Zuschauermenge.
Paolo traf den Ball nicht direkt, sondern vielmehr die Grasmatte darunter. Die Sohle seines Schlägers riss einen grossen Fetzen davon aus der Erde und schleuderte ihn fort. Ein Schwall aus Sand und Erde prasselte auf Fernando nieder.
Trotzdem sauste der Golfball hoch und flog in einem hohen Bogen genau auf das Loch zu. Das Publikum begleitete den Schlag mit einem langgezogenen Oh, welches umso lauter wurde, je näher sich der Ball dem Loch näherte.
 
Während der Ball auf das Loch niedersauste, streckte daraus eine Ratte ihren Kopf empor. Sie hatte ein verdächtiges Geräusch gehört und wollte nachschauen, was das war. Der Golfball traf sie voll am Kopf und brach ihr das Genick. Ein Aufschrei des Entsetzens entstieg der Zuschauerreihen.
Der Ball prallte vom Kopf der Ratte ab, hüpfte nochmals hoch und rollte dann langsam den sanften Hang hinunter. Er landete fünfzehn Meter hinter dem Loch im Sandbunker.
 
In den Reihen der Zuschauer wurde es plötzlich still. Nur die aufgeregte Stimme des Reporters war zu hören, der überhastet seinem Publikum zu berichten versuchte, was da gerade passiert war. Die Kameras konnten sich nicht entscheiden, was sie aufzeichnen sollten; den verblüfften Golfspieler, die tote Ratte oder den Golfball im Sandbunker.
 
Paolo blickte zum Schiedsrichter. Dieser blätterte nervös im offiziellen Regelbuch für Golfturniere. Dann schaute er traurig zu Paolo rüber und zuckte resigniert mit den Achseln.
 
„Dumm gelaufen“, sagte Fernando und klopfte sich den Staub von seinem Hemd.
„Ja, dumm gelaufen“, sagte Paolo.
„So ein blödes Vieh. Das hat es nun davon“, sagte Fernando, und Paolo sagte nichts, denn er versuchte sich vorzustellen, wie sich die Ratte jetzt wohl fühlen mochte. Morgen würde er sich womöglich ähnlich fühlen.
„Sie können immer noch einen Boogie schaffen, Señor Escobar“, versuchte ihn der Caddie aufzumuntern.
 
Der Schlag aus dem Sandbunker heraus war Paolo völlig misslungen. Er benötigte weitere drei Schläge, um seinen Ball endlich einzulochen, und da er in seiner Frustration den Golfball im Sandbunker auch noch mit dem Fuss traktierte, wurden ihm vom Schiedsrichter noch weitere zwei Strafpunkte aufgebrummt.
 
Am Ende des Turniers war Paolo dritter, knapp hinter dem amtierenden Champion Brian O’Hara und dem Weltranglisten-Zweiten Herbert Shorter.
Bei der Preisverleihung im Clubhaus erhielt Paolo eine bronzene Trophäe, die einen Golfspieler darstellte, wie er gerade seinen Schläger hochhob, um damit einen Schlag zu vollführen. Ausserdem bekam er ein Jahresabonnement für das clubeigene Fitnesscenter.
 
Das Jahresabonnement gab er gleich an Fernando weiter. Er würde es nicht mehr brauchen. Er bahnte er sich den Weg durch die Menge zum Ausgang. Die Reporter mit ihren Fragen und ihrer Mischung aus Mitleid und Schadenfreude gingen ihm auf die Nerven. Jemand klopfte ihm auf die Schulter.
 
„Gut gespielt, Señor Escobar!“, vernahm er eine Stimme dicht hinter seinem Rücken. Paolo antwortete nicht, blieb nicht stehen und schaute sich auch nicht um. Er war sich ziemlich sicher, dass die Stimme einem von Emilio Reynas Männern gehörte.
 
„Wir sehen uns morgen, armer Junge!“, glaubte er noch zu hören, als er beim Ausgang des Clubhauses war.
 
Er trat in den Abend hinaus. Endlich war er allein. Er schaute sich nach seinem Wagen um. Während er durch den Vorgarten des Clubhauses Richtung Parkplatz schritt, fiel ihm auf, dass er noch immer die bronzene Trophäe in seiner Hand umklammert hielt. Er blieb kurz stehen, hob das unförmige Ding hoch und schaute es sich nochmals an.
 
Der Golfspieler aus Bronze stand unverdrossen auf einem Sockel aus Edelholz und streckte majestätisch seinen Schläger in die Höhe. Die Abendsonne spiegelte sich auf seiner glitzernden Oberfläche. Am Sockel war eine Messingplakette angebracht. Darauf waren die Worte eingraviert:

INTERNATIONALES GOLFTURNIER
SANTA MARIA DEL MAR 2005
3. PLATZ
 
Paolo glaubte zu spüren, wie ein beissender Hohn von der Statue des Golfspielers ausging. Beim Parkplatz stand ein grosser Müllcontainer. Dort warf er den Golfpokal hinein. Dann stieg er in seinen roten Ferrari und fuhr davon.
Es wurde Nacht.

Kapitel 4
Die Domino-Strategie
 
                                                                                                                 „Beim Flügelschlag des Kranichs neigt sich die Lotusblume im Wind.“
                                                                                                                 (Japanisches Sprichwort)

Zu jener Zeit, als niemand Zeit hatte, weil jeder seine Zeit dazu brauchte, um Geld zu verdienen, war Zeit eine kostbare und begehrte Sache.
„Haben Sie etwas Zeit für mich?“, war damals eine häufig gestellte Frage, doch sie war stets rein rhetorischer Natur und wurde von niemandem ernst genommen.
Wurde ein erschöpfter Arbeitnehmer von seinem wohlwollenden Vorgesetzten dazu aufgefordert, sich ruhig Zeit zu nehmen, da konnte er nur verzweifelt erwidern: „Ja woher denn?“. Das kam aber nicht häufig vor. Häufiger hörte man allerdings den kläglichen Ausruf überforderter Menschen: „Lassen Sie mir bitte etwas Zeit!“, die zu wenig Zeit hatten, ihren Verpflichtungen nachzukommen.

Als Vladimir Sikorsky eine chiffrierte Annonce mit dem Wortlaut „ZEIT ZU VERKAUFEN“ aufgab, kam es zunächst zu einigen Missverständnissen, da fast niemand diese Anzeige beim Wort nahm. Manche dachten an einen Scherz, andere meinten, da wolle jemand seine Zeit als Haushaltshilfe verdingen, und einer glaubte gar, bei Sikorsky eine billige Uhr kaufen zu können.
In der zweiten Anzeige wurde er deutlicher. Diese veröffentlichte er im Darknet des Internets:

        „Wollten sie schon mal die Tour de France gewinnen?
        Wollten Sie schon mal fliegen wie ein Adler
        oder sind Sie alt und wollen sich wieder jung fühlen?
        Sie sagen ja, aber Sie haben keine Zeit dazu?
        Wir geben Ihnen diese Zeit!
        Melden Sie sich unter Chiffre 7766633“

Obwohl auch dies viele Leute für so was wie ein Psychoaufbau-Trainingsprogramm hielten, hatte Sikorsky bald einen kleinen, aber edlen Kundenkreis aufgebaut. Seine Abnehmer waren vorwiegend Geschäftsleute und Manager in gehobenen Positionen, die vor lauter Terminen keine Zeit hatten, jedoch genug Geld, um sich welche zu kaufen. Merkwürdigerweise waren es vorwiegend Männer.

Es gab verschiedene Arten von Zeit, die bei seinen Kunden gefragt waren. Sehr beliebt waren Momente der Kindheit und der Jugend, Augenblicke der Verliebtheit, Glücks und Zärtlichkeit, aber auch Gelegenheiten des Müssiggangs und zufriedener Gleichgültigkeit, die manchmal bei gewissen alten Leuten anzutreffen sind, welche mit ihrem Leben bereits in Frieden abgerechnet hatten.
Anfangs gab es auch einige Frauen unter Sikorskys Klientel, meist wohlhabende Damen älteren Semesters, die nochmals die Erfahrung der Jugend erleben wollten. Doch merkwürdigerweise schien ihnen diese Erfahrung nicht zu behagen. Egal ob es sich dabei um „junges Mädchen auf der Schaukel“, „das erste Mal verliebt“ oder „jung und schön beim Friseur unter der Trockenhaube“ handelte; sie kamen selten ein zweites Mal. Sikorskys Stammkundschaft war irgendwann ausschliesslich männlich.

Dem Apparat, mit welchem er die Zeit anderer Leute raubte, verlieh Sikorsky ein neues Design. Es wäre zu auffallend gewesen, mit einem hässlich unförmigen Ding, das aussah wie ein futuristischer Staubsauger, durch die Gegend zu laufen und mit dem Saugrüssel des Staubsaugers vor der Nase anderer Leute herumzufuchteln. Und Sikorsky war stets bemüht um äusserste Diskretion.
Nun sah seine Zeitschere aus wie ein gewöhnliches Schmetterlingsnetz. Das war viel unauffälliger. Schliesslich, was sollte daran ungewöhnlich sein, wenn der Biologielehrer des örtlichen Gymnasiums am Abend nach der Arbeit noch einige Schmetterlinge fangen wollte? In der Nachbarschaft der Sikorskys rief das höchstens ein müdes Lächeln hervor, wurde aber sogleich vergessen.

Wenn sich Sikorsky auf die Pirsch nach der Zeit begab, schnappte er sich das Schmetterlingsnetz, stopfte sich ein paar Einmachgläser in den Rucksack und machte sich auf den Weg zu seinem Jagdrevier.

„Ich gehe mal kurz einige Schmetterlinge fangen, Schatz!“, sagte er zu seiner Frau, und Barbara nickte verständnisvoll.

Seit einigen Tagen pflegte Vladimir diesen harmlosen Zeitvertreib, und eigentlich war sie ganz froh darüber. In letzter Zeit benahm er sich so seltsam, dass sie sich ernsthafte Sorgen um ihn machte. Sein Arbeitszimmer durfte sie nicht mehr betreten. Sie hatte dort einmal beim Staubsaugen ein leeres Einmachglas umgestossen. Das hatte ihn mächtig aufgeregt.

„Es war ja überhaupt nichts drin“, hatte sie ihm entgegnet. Doch seit diesem Vorfall schloss er stets sein Arbeitszimmer ab.

Und nun war sie froh, dass er zumindest hin und wieder raus an die frische Luft ging, statt sich immer in diesem muffigen Arbeitszimmer mit den leeren Einmachgläsern einzuschliessen.
Angeblich hatte ihm Doktor Leopold, der Hausarzt der Sikorskys, dazu geraten, und seine neue Freizeitbeschäftigung tat ihm sichtlich wohl, obwohl er bisher noch nie einen Schmetterling mit nach Hause gebracht hatte.

„Hoffentlich hast du diesmal mehr Glück, Vladi!“, meinte sie leicht spöttisch und machte hinter ihm die Türe zu.

Sikorskys beliebtesten Jagdreviere waren Kinderspielplätze und öffentliche Parkanlagen. Abends pflegte er auch mit Vorliebe in dunklen Kinosälen zu jagen, wo sich Teenager zu ihren ersten Rendezvous trafen, oder an der Seepromenade, wo manchmal jung verliebte Paare auf einer Bank sassen und Zärtlichkeiten austauschten. Sehr schöne Beute machte er auch im Garten des Nonnenklosters draussen vor der Stadt oder in einer Alterssiedlung für wohlhabende Pensionäre.

Sikorskys Vorgehen war einfach und unspektakulär. In seinem Jagdrevier angekommen, sondierte er zuerst die Lage. Er sah sich nach einem geeigneten Opfer um, jemanden in einer glücklichen, aussergewöhnlichen, beneidenswerten oder sonst wie interessanten Situation, die es wert war, eingefangen zu werden. Dann schlich er sich unauffällig an sein Opfer heran. Er platzierte sich unmittelbar hinter ihm, und nachdem er sich nochmals vergewisserte, dass er unbeobachtet war, schwang er kurz mit dem Schmetterlingsnetz über dem Kopf seines Opfers hinweg, stülpte die gestohlene Zeit ins Einmachglas und schlich dann wieder unbemerkt davon.
Diese kostbaren Momente, sorgsam konserviert in Einmachgläsern, bewahrte er in seinem Arbeitszimmer auf.

Mit der Zeit füllte sich sein Arbeitszimmer immer mehr mit diesen Einmachgläsern. Lange Regale säumten die Wände seines Zimmers. Er hatte die Gläser sorgsam geordnet und nach Art, Länge, Ort und Datum sortiert und katalogisiert, und so konnte er seine Kundschaft ohne lange Lieferzeiten bedienen.
Doch Sikorskys edle Klientel war nicht lange zufrieden zu stellen mit herkömmlichen Zeitsegmenten von der Stange. Sie wurde immer wählerischer. Immer öfter wurden sehr spezielle, zuweilen bizarre Wünsche geäussert. Bald war „Eichhörnchen füttern im Park“, „Nonnen beim Rosenschneiden“ oder „alter Mann isst eine Banane“ ganz aus der Mode.

Zwar machte seine zoologische Kollektion immer noch einen gewissen Umsatz, denn Jedermann will sich einmal wie ein Tiger fühlen oder den Flug des Adlers erleben. Doch reichte den meisten Leuten eine einzige zoologische Erfahrung aus, um dann festzustellen, dass ein Löwe im Käfig Angst empfindet und der Adler sich einsam und wegen seiner krummen Nase minderwertig fühlt.

Den grössten Umsatz machte Sikorsky mit seinen Spezialaufträgen.

„Man gönnt sich ja sonst nichts!“, kriegte Vladimir von seinen Kunden öfters zu hören. Sie wollten den ultimativen Kick.
 
Manchmal wünschte sich ein wohlhabender Geschäftsmann eine ganz bestimmte Situation, die er erleben wollte. Manchmal wollte er auch nur etwas Aufregendes und Aussergewöhnliches, manchmal aber etwas, was er selbst niemals zu tun wagen würde, weil es seiner Karriere hinderlich wäre, oder weil er danach womöglich gar eine Zeit lang im Gefängnis verbringen müsste. Oft baten die Kunden Sikorsky um eine spezielle Situation, die sie erleben wollten, da sie einfach nicht in der Lage waren, so etwas selbst zu erleben; aus vielen, ganz verschiedenen Gründen. Und manchmal wollten die Kunden etwas, was sie nicht mal deutlich auszusprechen wagten.

„Bringen Sie mir etwas Besonderes!“
„Ja was wollen Sie denn?“
„Na, etwas Aufregendes eben!“
„Und woran hätten Sie dabei gedacht?“
„Was fragen Sie so doof, Mann? Sind Sie so schwer von Begriff?“
„Nun, ich kann nicht Gedanken lesen.“
„Nun ja, ich...äh...ich wollte schon immer wissen, wie es sich anfühlt, wenn...“

Für solche Spezialitäten liess sich Sikorsky sehr gut bezahlen, denn es war nicht einfach, solche Momente einzufangen. Und für Sikorsky selbst wurde die Jagd nach diesen Objekten immer mehr zu einer emotionalen Belastung. Er dachte daran aufzuhören.
 
„Das ist es nicht wert. Diese Leute sind ja krank!“, sagte er sich.

Doch als Sikorsky fest entschlossen war, dem Ganzen ein Ende zu setzen, war es zu spät. Die Süchtigen fielen über ihn her.
 
Bis anhin hatten sich seine Kunden telefonisch bei ihm gemeldet. Dazu hatte Sikorsky eine eigene Leitung in sein Arbeitszimmer legen lassen, mit einer Mailbox und allem, was dazugehört, um ein florierendes Geschäft zu führen. Die Kunden gaben ihre Bestellung durch, und Sikorsky lieferte ihnen das Gewünschte an einem verabredeten Ort und kassierte bar.
Auf diese Weise konnte er bei der Kundschaft seine Anonymität bewahren, und gleichzeitig konnte er seine Geschäfte tätigen, ohne dass seine Frau irgendetwas davon erfuhr.

Willi Kräuter war damals einer von Sikorskys besten Kunden. Es war an einem sonnigen Nachmittag im Herbst, als sie sich das erste Mal trafen. Sie verabredeten sich vor einem Strassencafé in der Innenstadt.

„Na mein Freund, haben Sie etwas Zeit für mich?“, fragte Kräuter, als er den unauffälligen Mann im grauen Anzug, Hornbrille und einem Einmachglas in der Hand erblickte. Dies war der verabredete Code. Kräuter ergriff Sikorskys Hand und drückte sie kräftig.

„Howdeehow, Cowboy, so setzen wir uns doch und plaudern ein bisschen.“

Sie setzten sich an einen freien Tisch des Strassencafés.
Kräuter war der leitende Angestellter einer renommierten Treuhandgesellschaft. Er war leicht übergewichtig, ziemlich kleinwüchsig und von mittlerem Alter. Sein schütteres Haar liess er sich an der linken Schläfe lang wachsen, um es quer über den breiten Schädel zu kämmen, was die kahle Stelle verbergen sollte. Seine dicht beieinanderstehenden Augen funkelten ruhelos, und er schwitzte immerzu und war pausenlos am Plappern. Sich selbst fand er offenbar überaus witzig, denn er lachte ständig über seine eigenen kleinen Scherze, die er immerzu von sich zu geben pflegte.
Und so zog sich der einleitende Smalltalk trotz Sikorskys diskreter Zurückhaltung ziemlich in die Länge.
Als sie dann endlich auf das Wesentliche zu sprechen kamen, hob Sikorsky das Einmachglas auf den Tisch und sagte:

„Sie machen einfach das Einmachglas auf, halten Ihre Nase hinein und inhalieren kräftig. Und schon sind Sie für sieben Minuten in einem anderen Körper zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort und erleben den Moment Ihrer Wahl. Das können sie tut, wann immer Sie wollen und wo immer Sie wollen, denn es fällt Ihrer Umgebung überhaupt nicht auf. Die Zeit, in der Sie auf Reise sind, scheint nämlich für Ihre Umgebung stillzustehen, und Sie kommen genau zu dem Zeitpunkt von Ihrer Riese zurück, als Sie aufgebrochen sind.“

Kräuter war begeistert. Er wurde ein grosser Abnehmer von Sikorskys Einmachgläsern.
Sikorsky mochte ihn nicht besonders. Doch er konnte sich seine Kunden nicht aussuchen.
Kräuter verdiente zwar gut, er hatte aber einige sehr kostspielige Leidenschaften. Da war einmal seine Familie, die Frau und die vier Kinder, die er zu ernähren hatte. Nebenbei hielt er sich eine heimliche Konkubine, der er ein Häuschen besorgt hatte, wo er sie jeweils einmal die Woche besuchte, und die er mit einem monatlichen Check unterhielt.
Und zu guter Letzt wurde Kräuter auch noch süchtig nach Sikorskys Einmachgläsern.
 
Als ihm Sikorsky irgendwann später während Kräuters wöchentlichen telefonischen Bestellung mitteilte, dass er gedenke, sein Geschäft aufzugeben, da wurde Kräuter ziemlich deutlich.

„Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind, Sie eingebildetes Arschloch! Ich weiss genau, wer Sie sind! Ja, ich habe mich schlau gemacht, Sie mieser Dreckskerl! Ich weiss genau, wo Sie wohnen und wo Sie arbeiten, mein hochverehrter Herr Sikorsky. Und wenn ich von Ihnen nicht genau das kriege, was ich verlange, dann fliegen Sie mächtig auf Ihre feine Schnauze...!“

Ähnlich vehement reagierten Sikorskys andere Kunden, nachdem er ihnen beizubringen versuchte, dass er das Geschäft mit der gestohlenen Zeit nicht weiterzuführen gedenke. Sie benahmen sich wie Heroinsüchtige, die befürchteten, dass ihnen der Stoff ausgeht. Viele wurden aggressiv, einige versuchten es mit Mitleid, und einer von ihnen kam dann auch tatsächlich und klopfte eines Nachts an Sikorskys Tür, um mittels mehr oder weniger unverhohlener Drohungen seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen.
Die Leute setzten ihn dermassen unter Druck, dass Sikorsky nichts anderes übrigblieb als weiterzumachen. Und um den individuellen Wünschen seiner Auftraggeber nachzukommen, musste er sich einiges einfallen lassen.

Auf seiner Pirsch nach der Zeit schlich er mit seinem Schmetterlingsnetz oft bei bedeutenden Sportveranstaltungen herum, und bei so manchen Siegerehrungen wurde er gesehen. Bekannt ist ein Foto aus den späten Achtzigern des vorigen Jahrhunderts. Umrahmt von zwei hübschen Mädchen steht Luigi Calabrese, der überraschende Bergetappensieger der Tour de France, auf dem Podest und strahlt. Um den Hals die Siegermedaille, beide Arme in die Höhe gestreckt, in der einen Hand den begehrten Pokal, in der andern einen riesigen Blumenstrauss, steht Luigi Calabrese strahlend auf dem Siegerpodest und wird von den beiden Mädchen links und rechts auf die Wange geküsst.

Sieht man sich diese Aufnahme jedoch genauer an, so erkennt man über Luigis Kopf ganz verschwommen so etwas wie einen Schatten. Dieser Schatten war Sikorskys Schmetterlingsnetz. Bei der anschliessenden Pressekonferenz rief Luigi erstaunt aus:

„Was? Ich habe gewonnen?“

Seine Reaktion tat man zunächst als eine Art posttraumatischen Schock ab. Doch in Wahrheit hat Luigi Calabrese seine eigene Siegerehrung nie erlebt. Sie wurde ihm von Sikorsky gestohlen.

Wie sich Sikorsky aber im Viertelfinal der Fussballweltmeisterschaft unbemerkt auf das Fussballfeld schleichen konnte, wo gerade ein Spieler einen umstrittenen Treffer landete, der das Spiel entschied und schlussendlich der argentinischen Mannschaft den Titel des Weltmeisters bescherte, ist bis heute völlig ungeklärt. Der damals seiner Zeit beraubte argentinische Fussballspieler hat dies nie verkraftet. Zwar hat er es öffentlich nie zugegeben, sich an das grösste Ereignis seines Lebens nicht erinnern zu können. Wenn er darauf angesprochen wurde, sprach er wirres Zeug über die „Hand Gottes“. Doch seit diesem Sieg Argentiniens bei der Fussball-WM ging es mit der Karriere des Fussballers stetig bergab, und letztendlich verfiel er dem Kokain und leichten Mädchen.

Auch ist es schleierhaft, wie Sikorsky unbemerkt in die Duschräume des Gymnasiums, an dem er lehrte, gelangen konnte, und ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als die Mädchen nach dem Turnunterricht unter der Dusche standen, seine Zeitfalle ausfahren konnte. Hätte man ihn dabei erwischt, so würde dies mit Sicherheit das Ende seiner Karriere, nicht nur als Gymnasiallehrer, bedeutet.

Man kann nur annehmen, dass Sikorsky so etwas ähnliches wie eine Domino-Strategie erarbeitet hatte, wobei er sich zunächst selbst ein gewisses Zeitsegment verabreichte, das er vorher einem ahnungslosen Zeitgenossen geraubt hatte, bevor er zu solch dreisten Raubzügen auszog. Dies würde auch erklären, wie Sikorsky zu den Schlafzimmerszenen kam, die bei seiner Kundschaft grosse Beliebtheit hatten. Die Schlafzimmerszenen waren Sikorskys absoluter Renner.

Sikorskys Spezialaufträge brachten ihm sehr viel Geld ein. Zeit ist Geld.

Kapitel 5
Zeitreiter
 
                                                                                  „Nimm das Geld, und frag nicht, woher es kommt!
                                                                                  (drittes Gebot der freien Marktwirtschaft)

 Kräuter stand auf einem Fussballfeld und hielt den Ball in seinen Händen. Er trug ein gelbes Trikot, auf dem vorne und hinten gross die Nummer 23 aufgedruckt war, kurze, grüne Hosen, Wadenschoner in den grünen Kniesocken und Stollenschuhe an den Füssen. Er fühlte sich völlig ausgelaugt, alle Knochen taten ihm weh, und er war voller Schweiss und Dreck. Doch gleichzeitig fühlte er, wie Adrenalin durch seine Venen strömte, und das Blut pochte in seiner Halsschlagader. Er fühlte sich stark. Ringsherum hörte er die Massen toben. Kurz blickte er um sich, doch das grelle Flutlicht verschleierte seinen Blick auf die Tribünen, wo sechzigtausend Menschen ihm zujubelten. Kräuter setzte den Ball auf den Elfmeterpunkt. Er schaute hoch. Zwischen den Torpfosten stand der Torhüter und starrte den Ball an. Panik stand in seinem Gesicht. Kräuter drehte sich um und ging langsam auf die weisse Linie zu, die den Strafraum begrenzte. Dort standen seine Mitspieler. Sie schrien auf ihn ein, doch Kräuter hörte sie nicht. Etwa sechs Meter vom Ball entfernt blieb er stehen und drehte sich abermals um. Lässig stemmte er die Arme an die Hüften und blickte nach vorn. Vor ihm lag der Ball, dahinter das Tor, zwischen den Pfosten der Torwart. Kräuters Blick fixierte die ängstlichen Augen des Torhüters. Ein vernichtendes Lächeln huschte über sein Gesicht. Dann hörte er den Pfiff des Schiedsrichters. Kräuter rannte los. Im Rennen sah er, wie der Torhüter zuckte und zu einem Sprung in die linke Ecke ansetzte. Kräuter versetzte dem Ball mit dem Spann des rechten Fusses einen gewaltigen Tritt. Der Ball sauste davon, und noch während der Torhüter durch die Luft auf die linke Seite des Tors zu schwebte, bohrte sich der Ball ins Netz der rechten Torecke. Kräuter blieb nicht stehen. Er streckte seine Arme in die Luft und stiess einen fürchterlichen Schrei aus. Schreiend rannte er am Tor vorbei und in einem Halbkreis weiter entlang der Vordertribüne, wo die Menge tobte. Die Blitzlichter der Fotografen blendeten ihn. Er sprang in die Höhe und vollführte einen Salto. Dann wurde er von seinen Mitspielern eingeholt. Der erste sprang ihn von hinten an und klammerte sich mit den Schenkeln um seine Hüften. Der zweite stiess ihn von der Seite an und brachte ihn zu Fall. Weitere stürzten sich auf ihn, umarmten ihn und küssten ihn ins Gesicht.
 
Kräuter hob den Kopf vom Einmachglas und fühlte sich einen winzigen Augenblick lang überglücklich. Dann erkannte er Emilio Reyna, der ihm gegenüber sass und ihn fragend ansah. Kräuters ekstatischer Gesichtsausdruck wurde augenblicklich ernst, und etwas unbeholfen legte er das leere Einmachglas in die Schublade seines Schreibtisches.
 
Er sass am Schreibtisch in seinem Büro, und sein Besucher kam von weit her und brachte einen Aktenkoffer mit fünf Millionen Dollar mit. Er sass Kräuter gegenüber am Schreibtisch und spielte mit seinem Spazierstock.
 
Es war Freitag, kurz vor elf.
 
Kräuter hatte eine harte Woche hinter sich und fühlte sich etwas abgespannt. Tags zuvor hatte er Edith, seine heimliche Konkubine, besucht. Normalerweise bringen ihn die wöchentlichen Besuche bei Edith wieder auf Trab. Doch in letzter Zeit fühlte er sich auch danach irgendwie ausgelaugt. ‚Ist es etwa das Alter?’, fragte er sich manchmal.
 
Trotz der Klimaanlage, die leise am Fenster seines Büros surrte, war es unangenehm schwül, und Kräuter schwitzte. Vor sich auf dem Schreibtisch ausgebreitet waren die Finanzbücher des Kunden, die Kräuter zu betreuen hatte. Daneben stand ein weiteres leeres Einmachglas. Nur wenn man ganz genau hinsah, konnte man darin ein leichtes Flimmern erkennen, so wie wenn man an einem heissen Sommernachmittag über eine asphaltierte Landstrasse hinweg den Horizont betrachten würde, wo die Luft von der Hitze erregt leicht flimmert. Doch dem Besucher fiel das nicht auf.
 
Kräuter zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich den Schweiss von der Stirn.
 
„Sie müssen unbedingt ins Oberengadin reisen, Herr Reyna, bevor sie die Schweiz wieder verlassen. Zu dieser Jahreszeit ist es dort zauberhaft. Übrigens, wie geht es ihrer reizenden Fa...“
 
„Wie hoch, sagten Sie, würde die jährliche Rendite ausfallen?“
 
„Einen Moment, Herr Reyna, ich rechne das für Sie gleich noch mal durch.“ Kräuter griff nach dem Einmachglas, öffnete es, steckte seine Nase hinein und inhalierte kräftig.
Kräuter stand splitternackt in einem weiss gekachelten Raum. Es war dunstig im Raum. An den Wänden ringsherum waren Duschbrausen befestigt, und aus jeder Brause strömte warmes Wasser. Unter den Brausen standen junge, nackte Mädchen und duschten. Es herrschte ein fröhliches Gekicher und ein ausgelassenes, übermütiges Gejauchze.
Auch Kräuter war ein junges Mädchen und rieb sich seinen zierlichen Körper mit Seife ein. Kräuter fühlte sich schwerelos, und er verspürte am ganzen Körper ein angenehmes, leichtes Kribbeln. Das warme Wasser entspannte ihn. Es prasselte auf seinen Kopf mit den langen, blonden Zöpfen, rann seinen zierlichen Hals hinunter zwischen seinen kleinen Brüsten, deren Knospen vor Erregung leicht geschwollen waren, am straffen, weichen Bauch entlang hinunter zu seinen Schenkeln, zwischen denen sich einige Haarbüschel kräuselten.
Kräuter glitt mit der Seife über seine Hüften zu seinem kleinen, runden Hintern und weiter hinunter zwischen die Schenkel, wo er mit der Seife auf keinen Widerstand stiess. Dann drehte er am Wasserhahn und aus der Brause heraus strömte herrliches, kaltes Wasser. Kleine Blitze der Erregung durchzuckten ihn zwischen den Lenden, in seinem Bauch schienen Hunderte von Schmetterlingen zu flattern, und die Knospen seiner kleinen Brüste wurden ganz hart.
Voller Entzücken neigte Kräuter den Kopf nach hinten und stöhnte leise vor Wonne. Durch die halboffenen Augen las er einen Schriftzug, der an die Decke des Duschraum gekritzelt war:
 
TAMAL MOSSIANI WAS HERE
 
„Nun, das hängt ganz davon ab, wie sich die Hedge-Fonds und die Lage im mittleren Osten entwickeln. Ich habe da aber ein gutes Gespür, wie sie ja sicherlich wissen. Schliesslich laufen Ihre restlichen Pferdchen in unserem Stall auch ganz ordentlich, nicht wahr? Hehehe!
Tja, wenn Sie nun zusätzlich auch diese Summe bei uns hinterlegen, dann können sie von einem zusätzlichen jährlichen Profit von rund zwei bis drei Millionen Franken ausgehen, was aber die Steuerbehörde ihres Landes nichts angeht. Dafür freut sich aber der Weihnachtsmann umso mehr, nicht wahr? Hehehe!“
 
Kräuter gefiel dieser kleine Scherz, und er legte das leere Einmachglas beiseite.
 
Emilio Reyna, genannt ‚der Weihnachtsmann’, zuckte kurz zusammen, und der goldene Knauf seines Spazierstocks polterte auf den Parkettboden. Sein Gesicht erstarrte, und seine dunklen Augen durchbohrten Kräuter.
Emilio Reyna konnte es nicht leiden, wenn sich jemand über ihn lustig machte. Im Verlauf seines harten Lebens hat ihn jeglicher Sinn für Humor verlassen. Er hat sich hochgerappelt, vom verwahrlosten Strassenkind bis zum Herrscher des kolumbianischen Kokainkartells, und das war nicht einfach. Er ist dabei über Leichen gegangen, und obwohl er es längst nicht mehr nötig hatte, eigenhändig anderen Menschen Leid zuzufügen oder sie gar umzubringen, reizte es ihn manchmal doch. Das Töten ist etwas Ähnliches wie Fahrradfahren. Hat man es einmal gelernt, so verlernt man es nie mehr.
 
Dabei konnte Emilio froh sein, dass sein Spitzname ‚Weihnachtsmann’ lautete, statt etwas in der Art wie ‚Kastrat’ oder ‚Eunuch’. Doch kein Mensch würde es wagen, ihn so zu bezeichnen. Schon allein das Wort ‚Weihnachtsmann’ in seiner Gegenwart auszusprechen, führte den Betreffenden in eine lebensbedrohliche Situation.
 
Emilios Hoden waren ihm abgefallen, damals als er noch in San Gulliermo kleine Mädchen für sich anschaffen liess. Auf offener Strasse waren sie ihm abgefallen. Einfach so. Seitdem benötigt er täglich seine Testosteron-Spritze, um die männlichen Züge beizubehalten.
Die Hoden hat er aufbewahrt. Sie liegen in einem Einmachglas voll Formalin auf seinem Nachttisch.
 
‚Was soll der Scheiss?’, schoss es ihm durch den Kopf.
‚Will mich dieser Nigger verarschen? Verwechselt ein Gurkenglas mit dem Rechenschieber und macht sich auch noch lustig über mich!’
 
Doch dann erinnerte er sich, dass er bereits seit Jahren gute Geschäfte machte mit Kräuters Treuhandgesellschaft. Er hob seinen Spazierstock vom Parkettboden, kniff die Augen zusammen, blickte sein Gegenüber von der Seite her an und legte ein verkrampftes Lächeln über sein Gesicht.
 
„Ja, da freut sich der Weihnachtsmann, höhöhö!“
 
Doch Kräuter war in Gedanken ganz woanders.
 
‚Wer zum Teufel ist Tamal Mossiani?’, ging ihm durch den Kopf.
 
„Nimm das Geld, und frag nicht, woher es kommt!“, hiess das 3. Gebot der Treuhandgesellschaft Rempf & Sohn. Es war nirgends aufgeschrieben, in keinem Arbeitsbuch und hing auch nicht in eine Marmortafel gemeisselt an der Wand, ebenso wenig wie das 4. Gebot, das lautete: „Wenn wir es nicht tun, dann tut es jemand anders“. Doch den leitenden Mitarbeiter des Treuhandbüros waren diese Gebote durchaus geläufig.
 
Nach aussen hin galt die Firma Rempf & Sohn als solide Institution mit hohem Prestige, und das Unternehmen machte gute Gewinne mit dem Geld anderer Leute, welches sie auf Bankkonti in der ganzen Welt verteilte oder in Aktion, Fonds und Immobilien anlegte. Somit warf das der Firma anvertraute Geld gute Zinsen ab, und andrerseits wurde die Herkunft des Geldes völlig verschleiert.
 
Nachdem Emilio Reyna das Büro verlassen hatte, öffnete Kräuter den Aktenkoffer. Drinnen lagen, säuberlich gebündelt, fünf Millionen Dollar. Kräuter lächelte, schloss den Koffer und legte ihn in den Safe, der hinter seinem Schreibtisch stand. Gleichzeitig entnahm er dem Safe ein Einmachglas. Er schloss den Safe ab, setzte sich wieder an seinen Schreibtisch und stellte das Einmachglas vor sich hin.
 
Fasziniert betrachtete er eine Weile das leichte Flimmern im Glas.
 
„Na dann wollen wir mal“, sagte er sich, öffnete das Glas, hielt seine Nase an die Öffnung und inhalierte kräftig. Draussen schlug die Kirchenglocke elf Mal.
 
Das alles hatte sich Willi ganz anders vorgestellt. Eigentlich war er aufgebrochen, um Gardinen zu verkaufen. Und nun sass er da in diesem grell erleuchteten Saal zusammen mit diesen anderen Männern und starrte diese grauenvollen Wesen da draussen hinter dieser grossen Glasscheibe an. Und er konnte es einfach nicht fassen, was er dort draussen sah.
 
Willi war Handelsreisender. Mit seinem Raumschiff voller Gardinen und Vorhanggarnituren durchstreifte er das Universum und machte seine Geschäfte. Er bevorzugte die kleinen, unterentwickelten Planeten im Sternbild des Steinbocks, wo die Leute noch kaum Gardinen vor ihren Fenstern hatten. Seine Ware tauschte er gegen Glasmurmeln ein, und bevor er mit seinem Raumschiff in diesen verfluchten Sonnenwindsturm geraten war, war der Tresor an Bord seines Schiffes bereits halb voll mit Glasmurmeln.
 
Der Sturm fegte sein Schiff in die Umlaufbahn dieses verdammten Planeten. Wochenlang hatte er ihn umkreist, bevor er sich entschied, hier zu landen. Das war ein Fehler, wie sich jetzt herausstellte.
 
Die Bilder, die er von diesem Planeten empfangen hatte, als er noch in dessen Umlaufbahn schwebte, hatten sich als Falle erwiesen. Es waren wunderschöne, unschuldige Jungfrauen gewesen, die darum flehten, dass Willi zu ihnen herunterkommen und sie von ihrem lustvollen Verlangen erlösen möge. Und da Willi ein hilfsbereiter Mensch war, wollte er ihnen diesen Gefallen auch gerne erweisen. Vielleicht könnte er ihnen danach auch einige Gardinen verkaufen, stellte er sich vor. Warum nicht das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden, sagte er sich und setzte zur Landung an.
 
Aber es war eine Falle! Nichts als Hologramme waren das, diese falschen Jungfrauen! Verfluchte, billige Scheiss-Hologramme! Und Willi ist ihnen in die Falle getappt.
 
Nun sass er da zusammen mit diesen anderen Männern und starrte in diese grauenvolle Welt da draussen hinter der grossen Glasscheibe. Er konnte nicht glauben, was er dort sah, und musste seinen Blick abwenden, sonst wäre ihm womöglich noch schlecht geworden. So schaute er lieber seinen Nachbarn zu seiner Linken an, einen leicht angegrauten, älteren Herrn mit elegantem Spitzbart.
 
„Gestatten, Willi Kräuter. Ich mache in Gardinen“, stellte er sich vor.
 
Die Männer sassen auf einem treppenartigen Podest, so dass man von draussen, jenseits der grossen Glasscheibe, jeden einzelnen von ihnen genau sehen konnte. Rings ums Podest herum waren unzählige automatische Schiebetüren. Die Türen waren gekennzeichnet mit „Universum A1, Universum B1, Universum C1 und so weiter.
 
„Gardinen und Vorhanggarnituren“, fügte Willi hinzu.
 
Ausser einem grossen Schild mit einer Nummer drauf, das ihm um den Hals hing, war er praktisch nackt, wenn man von seinem Tanga-Höschen, dem Strumpfgürtel und den Netzstümpfen einmal absieht. Die anderen Männer waren alle genau gleich angezogen wie Willi. Das Einzige, was sie unterschied, war die Nummer auf dem Schild, das sie um den Hals trugen. Willi trug die Nummer 36. Der Spitzbart hatte die Nummer 54.
 
„Sehr erfreut. Mein Name ist Pater Thomas de Valverde.“
 
Die Beiden schüttelten sich die Hand.
 
„Und, schon lange hier, Pater?“, fragte Willi leicht verlegen und rieb sich dabei nervös die schwitzenden Hände.
 
Eigentlich war Willi ein durchaus geselliger Mensch, und normalerweise liebte er es, ein wenig zu plaudern. Doch heute war ihm irgendwie nicht nach Konversation zumute. Trotzdem erschien ihm ein belangloses Schwätzchen noch immer besser, als zu dieser Glasscheibe hinauszustarren, hinter welcher diese fürchterlichen Bestien umherstolzierten.
 
Der Spitzbart blickte kurz auf seine Armbanduhr und antwortete:
 
„Nun, es sind bald fünf Jahrhunderte.“
 
Die Monstren vor der Glasscheibe sahen aus wie Willis Grossmutter, die seit 30 Jahren tot war. Nur, dass sie viel grösser waren, so an die drei Meter, schätzte Willi, und somit an die fünf Zentner wiegen müssten. Manche von ihnen trugen ein Miniröckchen, unter welchem man die Krampfadern an der Cellulitishaut entlang kriechen sah. Ihre eingefallenen, faltigen Gesichter waren stark geschminkt, und die meisten von ihnen trugen ein kleines Handtäschchen.
 
„Und, was hat Sie denn hierher verschlagen, Pater?“, fragte Willi, obwohl ihn das überhaupt nicht interessierte. Doch sollte er stattdessen etwa dauernd diesen Bestien da draussen zusehen, wie sie die Männer in ihrem Glaskäfig mit ihrem fürchterlichen Grinsen anmachten, aus deren zahnlosen Schlund grünlicher Schleim herausquoll?
 
„Ich war unterwegs, um den heidnischen Planeten San Guillermo wieder auf den rechten Pfad zu führen, als mein Schiff von einem furchtbaren Sturm hierhergetrieben wurde,“ sagte der Spitzbart mit pathetischer Stimme und richtete sich leicht auf, um seinen Worten etwas Würde zu verleihen.
„Ich bin Missionar vom intergalaktischen Orden des Heiligen Bartholomäus.“
 
Der Pater mit dem Spitzbart machte eine kleine Verbeugung.
 
Die Bestien schienen sich köstlich zu amüsieren und warfen den Männern hinter der Glasscheibe immer wieder Kusshändchen zu. Manchmal presste eine ganz unverfrorene von diesen Kreaturen den rotgeschminkten Mund an die Fensterscheibe und formte ihn zu einem grossen O, so dass die Männer ihre riesige, zahnlose Mundhöhle sahen, an welchem grünlicher Schleim die Scheibe runterfloss. Und in diesem grossen O liess sie dann ihre widerliche, mit Pickeln besetzte Zunge auf der Glasscheibe herumtanzen.
 
„Was ist den falsch mit diesem Planeten San Guillermo?“, erkundigte sich Willi, nur um nicht nach vorne sehen zu müssen.
 
Eins von diesen Monstren kehrte ihnen den Rücken zu und beugte sich nach hinten. Dann zog es langsam das Röckchen hoch, entblösste seinen riesigen, pickligen Hintern und drückte ihn gegen die Glasscheibe. Zwischen den Arschbacken klaffte ein finsteres, mit Haaren besetztes Loch, und Willi, der trotz seiner krampfhaften Bemühungen um Konversation mit dem Pater einen kleinen Blick davon erwischt hatte, glaubte mit Schrecken zu sehen, wie aus diesem finsteren Loch plötzlich so etwas wie eine lange Zunge hervorschnellte.
 
Die restlichen Bestien krümmten sich vor Lachen und schlugen sich mit ihren Pranken auf die Schenkel.
 
„Nun, die Bewohner von San Guillermo vergöttern so eine teuflische Art von Götzenbild. Man sagte mir, es handle sich um etwas ähnliches wie die Skulptur eines Golfspielers. Sie beten ihn an und glauben, dass er ihnen alle Wünsche erfüllt.“
 
Pater Thomas bekreuzigte sich und murmelte leise ein Gebet.
 
„Ach, wirklich?“, sagte Willi und versuchte, etwas Interesse vorzutäuschen.
 
„Ja, wirklich, stellen Sie sich vor! Welch teuflische Blasphemie! So etwas kann man nun wirklich nicht zulassen.“
 
Ihre Unterhaltung wurde plötzlich unterbrochen von einem unangenehmen, lauten Surren. Gleichzeitig leuchtete auf einer Anzeigetafel über dem grossen Glasfenster eine Zahl auf. Es war die elf. Gleich darauf ertönte aus einem Lautsprecher eine sympathische, weibliche Stimme.
 
„Nummer elf wird gebeten, sich zum Ausgang B7 zu begeben. Nummer elf bitte.“
 
Die Gespräche im Saal waren alle verstummt. Die Männer blickten um sich und versuchten herauszufinden, wer von ihnen die unglückselige Nummer elf trug.
In der vorderen Reihe erhob sich ein kleines, schmächtiges Männchen. Es war kaum eins sechzig gross, ziemlich mager und an seiner behaarten Brust hing ein Schild mit der Nummer elf. Sein Gesichtsausdruck schien fest und entschlossen, und keck zwirbelte er an seinem Schnurrbart.
 
„Wird auch langsam Zeit“, sagte er und schritt auf seinen dürren X-Beinen zur Tür, welche mit „Universum B7“ gekennzeichnet war. Die Schiebetür öffnete sich automatisch.
 
„Nun wollen wir mal sehen, was die Ladies so alles draufhaben.“
 
Er liess seinen Bizeps etwas spielen und verschwand hinter der Tür. Die Tür schloss sich hinter ihm.
 
„Mutiger Kerl“, flüsterte Willi dem Pater zu.
 
„Ja, das ist Tamal Mossiani.“
„Tamal Mossiani?“
 
Der Name kam Willi bekannt vor. Er dachte nach, wo er ihn schon mal gehört hatte. Er kam nicht drauf.
 
„Sie machen in Gardinen, sagten Sie?“, fragte Pater Thomas.
 
„Ja, Gardinen und Vorhanggarnituren. Ist ein gutes Geschäft. Damit kann man viele Glasmurmeln verdienen, wenn man sich schlau anstellt“, antwortete Willi stolz und lächelte. Sein Lächeln wirkte etwas verkrampft.
 
„Ach tatsächlich?“, staunte der Spitzbart.
 
Unterdessen war zwischen den Monstren vor der Glasscheibe draussen eine kleine Rangelei ausgebrochen. Scheinbar waren sich zwei von ihnen nicht einig und gerieten sich in die Haare. Die eine Kreatur zerrte die andere am Büstenhalter, und zwei riesige, faltige Hängetitten quollen daraus hervor. Dafür kriegte sie von der andern Kreatur eine volle Breitseite mit der Handtasche auf ihren Hinterkopf verpasst.
 
„Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viele Haushalte heutzutage noch ohne Gardinen auskommen müssen, Pater. Da kann man noch einiges herausholen, sage ich Ihnen, und das können Sie mir glauben. Ist so sicher wie das Amen in der Kirche, hehehe!“ schwärmte Willi.
 
Erneut ertönte dieses laute Surren. Diesmal erschien die Zahl 23 auf der Anzeigetafel. Und wieder erklang aus dem Lautsprecher diese angenehme, weibliche Stimme.
 
„Nummer 23 wird gebeten, sich zum Ausgang G13 zu begeben. Nummer 23 bitte.“
 
Ein merkwürdiger Kerl mit einem Papierhut auf dem Kopf, einem grossen Einmachglas in der Hand und einem Aktenkoffer zwischen seinen Beinen wurde unruhig. Er sass in der vordersten Reihe, rechts unten, von Willi aus gesehen, und klopfte nervös mit seinen Fingern auf dem Einmachglas herum. Erneut ertönte die weiche, angenehme Stimme aus dem Lautsprecher.
 
„Nummer 23 wird gebeten, sich zum Ausgang G13 zu begeben. Nummer 23 bitte.“
 
Der Kerl mit dem Papierhut, dem Einmachglas und der Aktentasche wurde immer nervöser.
 
„Ich geh da nicht raus! Ich geh da nicht raus!“, stammelte er und klammerte sich ganz fest an sein Einmachglas, als würde das seine Rettung bedeuten.

Von draussen her glotzten ihn die Bestien an und grinsten lüstern. Sie pressten ihre geifernden Gesichter auf die Scheibe, und der Rotz floss ihnen aus den Mäulern und zog lange Schleimspuren die Scheibe hinunter.
 
„Letzter Aufruf für Nummer 23. Nummer 23 wird gebeten, sich zum Ausgang G13 zu begeben. Nummer 23 bitte.“
 
„Aber ich gehöre doch gar nicht hierher!“, schrie er. Er war völlig verzweifelt.
 
Eine automatische Schiebetür öffnete sich, und zwei riesige tönerne Golems schritten auf den Mann mit der Nummer 23 zu. Der Mann mit der Nummer 23 öffnete hastig das Einmachglas, das er in den Händen hielt, und zog immer wieder heftig mit der Nase die Luft an dessen Öffnung in seine Lungen. Er schien völlig verwirrt zu sein.
 
„Sikorsky, Sie verdammter Kerl, holen Sie mich da raus!“ schrie er.
 
Als ihn die zwei Golems an seinen Armen packten, liess er das Einmachglas fallen. Es zerschellte am Boden, doch der Mann konnte noch nach seinem Aktenkoffer greifen. Er hielt den Eunuchen seinen Koffer hin.
 
„Nehmt das, nehmt das! Das gehört euch. Da ist viel Geld drin. Aber lasst mich in Ruhe!“
 
Einer der Golems schlug ihm den Aktenkoffer aus der Hand. Im weiten Bogen flog er gegen die Wand und zerschellte. Viele farbige Glasmurmeln quollen heraus und rasselten durch den Raum. Die beiden Eunuchen packten den Mann an den Armen, wobei ihm sein Papierhut vom Kopf fiel. Unter grässlichen Schreien wurde der Mann mit der Nummer 23 von aus dem Saal gezerrt, und die automatische Schiebetür mit der Aufschrift „Universum G13“ schloss sich hinter ihnen.

„Wissen Sie, Pater, die Leute um Andromeda herum, die wollen alle nur diese Gardinen mit Goldkante. Sie müssen gar nicht erst versuchen, denen etwas anderes andrehen zu wollen. Nein, Pater, glauben Sie mir, da hätten Sie kein Glück. Es muss schon die Goldkante sein. Etwas anderes als die Goldkante kommt für die dort überhaupt nicht in Frage. Andrerseits fahren die Leute auf Pegasus voll ab auf geblümte Vorhänge. Schon seit Lichtjahren ist das so. Und das wird sich in absehbarer Zeit auch kaum ändern. Sind sehr konservativ, die Leute vom Pegasus, müssen Sie wissen. Zwar wechselt hin und wieder ihre Vorliebe, was die Farbvariation betrifft, müssen Sie wissen. Vor zwei Jahren waren dort zarte Pastellfarben voll im Trend. Jeder wollte nur geblümte Vorhänge in zarten Pastellfarben! Unglaublich, nicht? Und in dieser Saison schwärmt alles für rosa. Alle wollen plötzlich rosa Gardinen haben. Da staunen Sie, was, Pater? Doch das Blumenmuster, das schwöre ich Ihnen, Pater, das Blumenmuster bleibt dort ewig in Mode, das kann ich Ihnen versichern. Ja, Pater, man muss schon sehr genau Bescheid wissen, was die Leute mögen, um gute Geschäfte zu machen, das ist gar nicht so einfach, wie sich das die Leute vorstellen. Wissen Sie, als ich vor drei Jahren mit meinen Gardinen zum Uranus unterwegs war, da hatte ich doch glatt...“

 
Es ertönte wieder das Surren der Anzeigetafel.
 
„Nummer 36 wird gebeten, sich zum Ausgang A9 zu begeben. Nummer 36 bitte.“
 
Willi verstummte mitten im Satz. Er blickte zu seiner Plakette runter, die ihm um den Hals hing, und betrachtete gründlich die Zahl, die darauf stand. Es war noch immer die Nummer 36.
 
„Tja, hähähä, das bin wohl ich“, stotterte er und versuchte, ein Lächeln aufzusetzen.
 
Der Spitzbart nickte.
 
„War nett, mit Ihnen zu plaudern, Pater.“
„Ganz meinerseits, mein Sohn“, sagte der Pater.
 
Willi stand auf und wollte sich tapfer seinem Schicksal fügen. Er blickte noch einmal zur Glasscheibe hinaus, sah, wie ihn die geifernden Kreaturen dahinter anstarrten, und zögerte.
 
„Sie wissen nicht zufällig, wie man mit diesen Monstren da draussen fertig wird, Pater?“
„Oh, nichts einfacher als das. Sie brauchen ihnen nur einen Moll-Blues in Cis auf der Gitarre vorzuspielen. Und schon sind sie zahm wie Lämmchen.“
„In Cis? Warum ausgerechnet in Cis?“
„Keine Ahnung.“
„Hmm. Sie haben nicht zufällig eine Gitarre dabei, Pater?“
„Leider nein, mein Sohn.“
 
„Nummer 36 wird gebeten, sich zum Ausgang A9 zu begeben. Nummer 36 bitte.“
 
„Ich fürchte, ich muss mich jetzt wirklich langsam verabschieden, Pater. Vielleicht können wir unsere nette, kleine Unterhaltung ja ein andermal fortsetzen.“
 
Willi schüttelte dem Spitzbart die Hand und stand auf.
 
„Gott segne Sie, mein Sohn“, sprach Pater Thomas.
 
Willi bahnte sich den Weg an den sitzenden Männern vorbei und stieg vom Podest hinunter. Langsam ging er auf die automatische Schiebetür mit der Aufschrift „Universum A9“ zu. Seine Knie waren butterweich und sein Herz klopfte wie verrückt. Als er vor der Schiebetür stand, öffnete sie sich automatisch.
Willi drehte sich noch einmal um und rief:
 
„Auf Wiedersehen, Pater!“
 
Pater Thomas, hoch oben auf dem Podest in der Menge sitzend, hob die Hand hoch und winkte ihm zu. Willi kam es vor, als würde er ihn in Zeitlupe sehen. Dann schritt er langsam durch die Tür.
  
Als sich die automatische Schiebetür hinter ihm schloss, stand er in einem grossen, in gedämpftem Licht gehüllten Ballsaal. Er hörte Musik. Auf der weiten Tanzfläche vor ihm sah er einige wenige, eng umschlungene Pärchen, die sich sachte im Takt der dezenten Musik wiegten. Die Musik kam von einer Bühne am Ende des grossen Ballsaals. Sie war in zartes rosa Licht getaucht. Auf der Bühne standen Peter und Fred, das berühmte Kunstfurzer-Duo aus Las Vegas.
 
Ältere Zeitgenossen unter Ihnen werden sich vielleicht noch an sie erinnern, denn früher war dieses Duo weltberühmt, allgemein und allerseits bekannt unter dem Namen „Peter und Fred“.
 
Damals, in der guten alten Zeit, tingelten sie landauf landab mit ihrem Programm und furzten auf den besten Bühnen dieser Welt ihre berühmten Melodien. Ihr Repertoire bestand hauptsächlich aus Evergreens und Broadway-Melodien. Obwohl sie durchaus auch klassische Stücke in ihrem Repertoire hatten, war die leichte Muse bei den Zuhörern weitaus beliebter. Sie hatten aber ebenfalls eigene Kompositionen im Programm, und Sie werden sich vielleicht noch heute an ihr bekanntes Stück „Wenn du furzt, dann riecht es nach Veilchen“ erinnern, welches es damals bis in die internationalen Charts gebracht hatte.
 
Und nun standen sie auf der Bühne dieses grossen Ballsaals und spielten Sinatras „Strangers in the Night“.

„Darf ich um den nächsten Tanz bitten?“, hörte Willi eine süsse Stimme hinter seinem Ohr hauchen. Erschrocken drehte er sich um. Vor ihm stand eine atemberaubend schöne Frau in einem engen, schwarzen Abendkleid. Sie war um zwei Köpfe grösser als Willi, hatte langes, blondes Haar, das ihr über die weichen Schultern floss und goldig schimmerte. Um ihren zarten Hals hing eine Perlenkette über dem tiefen Dekolleté, wo sich zwei wohlgeformten Brüste wölbten, und ihre sanften, blauen Augen durchbohrten Willis ängstlichen Blick.
 
„Äh, was? Ja, also...äääh, ich dachte...ähähä... mit Vergnügen“, stammelte Willi.
 
Die Blondine ergriff Willis Hand und zog ihn mit zarter Gewalt hinter sich her zur Tanzfläche. Sie umarmte ihn und drückte sachte sein Gesicht an ihren Busen. Dann wiegten sie sich sanft zur leisen Musik.
 
Es war nicht so, dass Peter und Fred sich einfach nur auf die Bühne vor die Mikrofone gestellt hätten, den Rücken dem Publikum zugewandt, bekleidet im eleganten Smoking mit ausgeschnittenem Hosenboden, und einfach nur die Lieder hinuntergefurzt hätten. Nein, durchaus nicht. So einfach hatten sie es sich nicht gemacht. Sie hatten eine überaus ausgeklügelte Choreografie, und ihre Lieder untermalten sie rhythmisch mit ausgefeilten Stepptanz-Darbietungen, während sie sich Stock und Zylinder zuwarfen und damit behände herumjonglierten. Seit Jahren waren Peter und Fred der absolute Knaller in der Berliner Kulturscene der Zwischenkriegsjahre.
  
Noch immer waren Willis Knie butterweich, und noch immer schlug sein Herz wie verrückt. Etwas ängstlich umfasste er ihre schmale Taille und liess sich von ihr im Tanze führen. Der süsse Duft an ihrem weichen Busen entspannte ihn allmählich. Sie roch nach Veilchen.

Fred verfügte über einen Stimmumfang von über drei Oktaven. Er reichte vom Bariton bis zum Mezzosopran. So konnte er genauso gut den Bass-Part des Duos übernehmen wie den solistischen Teil, und wenn er gerade in Form war und sich anstrengte, dann erreichte er sogar das dreigestrichene C.
  
Peter war Tenor. Sein Stimmumfang war nicht besonders gross. Dafür hatte er aber eine besondere Technik der Artikulation entwickelt, die weltweit einzigartig war und die ausser ihm nur noch der Grosse Gabrielo beherrschte. Durch äusserste Beherrschung seines Schliessmuskels und des Enddarms war Peter in der Lage, richtige Vokale zu furzen. Wenn er beispielsweise das Ave-Maria von Schubert furzte, dann furzte er nicht einfach nur die Melodie, sondern es klang dann tatsächlich wie „aaa-eee-aaa-iii-aaa“.
Mit den Konsonanten war das nicht so einfach. Denn um Konsonanten wie das D, das L oder das R zu artikulieren, bedarf es einer Zunge, und über die verfügt das menschliche Rektum nicht. Andere Konsonanten, wie zum Beispiel das F oder das P konnte Peter durchaus furzen, doch liess er das auf der Bühne lieber bleiben, denn dadurch wurde seine Aussprache etwas feucht. Nur zuweilen, wenn sie spät abends nach einer Show im engen Freundeskreis zusammensassen, leicht angeheitert und in ausgelassener Stimmung, dann konnte es vorkommen, dass Peter die Anwesenden unterhielt, indem er die Reden berühmter Politiker nachfurzte.
 
„Gestatten, Willi Kräuter. Ich mache in Gardinen“, sprach Willi zum Busen seiner Tanzpartnerin..
 
Sie streichelte sanft seinen Hinterkopf. Willi fühlte sich wohl.
 
„Gardinen und Vorhanggarnituren. Damit kann man viele Glasmurmeln machen“, sagte er, blickte zu ihr hoch und lächelte verlegen.
Ihre Augen waren geschlossen und sie lächelte leise. Behutsam drückte sie Willis Kopf wieder an ihren Busen zurück. Langsam wiegten sie sich im Takt der Musik.
  
Damals, am Zenit ihrer Karriere, füllten Peter und Fred die grössten Konzertsäle der Welt. Sie unternahmen Tourneen durch alle Kontinente, und vor allem in Japan und Lateinamerika waren sie äusserst populär. Oft wurden sie zu sportlichen Grossanlässen wie der Eröffnung der Olympischen Spiele oder dem Finale der Fussball-Europameisterschaft eingeladen, um die Nationalhymnen zu furzen, und eine Zeit lang hatten sie sogar eine eigene Fernsehshow. Vielleicht erinnert sich der Eine oder Andere von Ihnen noch an diese damals recht beliebte Sendung. Sie hiess „Erkennen Sie die Melodie“. Es handelte sich dabei um ein Quiz, bei dem die Kandidaten den Namen des Liedes erraten mussten, von welchem Peter und Fred einige Takte furzten. Doch das ist sehr lange her, und heute sind Peter und Fred schon längst in Vergessenheit geraten.
 
„Peter und Fred...ich kann’s nicht glauben!“, murmelte Willi und liess eine Hand nach unten gleiten, wo er sanft an den straffen Hintern seiner Tanzpartnerin fasste. Das fühlte sich gut an. In seinem Tanga-Höschen wurde es etwas eng.
  
Nach ihren erfolgreichen Jahren haben Peter und Fred noch ein oder zwei Mal ein Comeback versucht. So hatten sie einmal das Duo mit talentierten, jungen Kunstfurzern aus aller Welt zu einer Big-Band erweitert, mit der sie Jazz-Klassiker von Duke Ellington und Count Basie einspielten. Ein anderes Mal versuchten sie, ein jüngeres Publikum anzusprechen und nahmen unter dem Namen „Fred und seine Abrissbirne“ eine harte Heavy-Metall-CD auf. Der Erfolg war aber in beiden Fällen eher mässig und nicht mehr derselbe, wie zu ihren glanzvollen Zeiten.
 
„Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viele Haushalte heutzutage noch ohne Gardinen auskommen müssen, Fräulein“, sagte Willi und sah zu seiner Tanzpartnerin hoch. „Da kann man noch einige Glasmurmeln rausholen, wenn man sich schlau anstellt, das können Sie mir glauben.“
 
Sie öffnete die Augen und sah ihn zärtlich an. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen.
 
„Ich will etwas trinken, Willi“, hauchte sie.
 
Während ihres Tanzes sind sie bei einer kleinen Bar angelangt, welche neben der Bühne stand, wo Peter und Fred Sinatras „Strangers In The Night“ vortrugen. Ein adrett gekleideter Barmann stand dahinter, mixte einen Martini und reichte ihn Willis Begleiterin.
 
„Und was darf ich Ihnen bringen, mein Herr?“, fragte er Willi.
„Oh, einen Pfefferminztee bitte“.
„Ein Pfefferminztee. Kommt sofort, mein Herr“, sprach der Barmann, langte hinter die Theke und stellte eine dampfende Tasse auf die Theke.
„Ein Pfefferminztee, der Herr“.
 
Willi setzte sich neben die Blondine auf den Barhocker.
 
„Danke schön“, sagte er, lächelte die Frau neben ihm an und fing an, in seinem Tee zu rühren.
„Bin nämlich bei den Anonymen Alkoholikern, wissen Sie.“
 
Inzwischen hatten Peter und Fred „Strangers In The Night“ zu Ende gespielt.
  
Damals, als es mit ihrer Beliebtheit so langsam bergab ging, versuchte noch jeder von ihnen, sich mit einer Solokarriere zurück in die Charts zu furzen. Peter machte eine Einspielung mit melancholischen Liebesballaden, begleitet nur von einer Gitarre, und Fred versuchte es mit einer Annäherung zur afrocubanischen Musik, die damals gerade im Trend war, und stellte eine Band aus kubanischen Musikern zusammen. Er nannte sie „Hot Chocolate“. Doch beide Solo-Projekte fanden beim Publikum kaum Beachtung, obwohl sie von Musikkritikern durchaus mit Wohlwollen behandelt wurden.
 
„Wissen Sie, als ich vor drei Jahren mit meinen Gardinen zum Uranus unterwegs war, da hatte ich doch glatt vergessen, die Gardinenringe mitzunehmen“, sagte Willi zu seiner Begleiterin, während er den Teebeutel aus der Tasse zog.
„Sie wissen doch, diese kleinen Dinger, womit man die Gardinen an der Vorhangstange aufhängt.“
 
Willi tropfte den nassen Teebeutel über der Tasse ab.
 
„‘Tja, und was machst du jetzt, alter Knabe’, sagte ich mir, ‘wegen dieser blöden Gardinenringe nochmals umkehren?’ Nein, da kennen Sie mich schlecht, mein Fräulein. Wissen Sie, was ich da gemacht habe?“
 
Die Blondine fasste Willi zwischen die Beine, und vor Schreck riss Willi den Arm hoch und schleuderte den Teebeutel davon.
 
„Lass uns gehen, Willi. Ich möchte mit dir schlafen“, hauchte sie, während ihre Hand seinen erigierten Penis umfasste.
„Äh, ja...hähähä...mit Vergnügen“, stammelte Willi.
 
Sie zog Willi sachte vom Barhocker und ging langsam quer über die Tanzfläche auf eine Tür zu, die sich am hinteren Ende des Ballsaales befand. Vorsichtig zog sie Willi hinter sich her und wippte dabei lasziv mit ihren Hüften.
 
Peter und Fred hatten unterdessen einen neuen Song angestimmt. Es war „I Do IT My Way“, und die wenigen Pärchen im Ballsaal schwebten hoch über der Tanzfläche und drehten sich zur Musik, so als wären es kleine Mobiles, die an der Decke hingen.
 
Hinter der Tür befand sich ein grosses, rundes Bett. Mit einem leichten Schubser beförderte die Blondine Willi aufs Bett. Sie zog ihm das Tanga-Höschen aus. Dann nahm sie seinen steifen Penis in ihre Hand und streichelte ihn zärtlich. Sie beugte sich über ihn und küsste seine Hoden. Willi stöhnte auf vor Wonne. Sie öffnete ihre Lippen und umschloss damit seinen Schwanz, der immer härter wurde. Mit ihrer weichen, warmen Zunge umkreiste sie seine pulsierende Eichel. Gleichzeitig streichelte sie zärtlich seine behaarte Brust. Dann biss sie ihm sanft in die Eichel, löste sich von ihm und richtete sich auf.
 
„Ich muss mal kurz für kleine Mädchen“, hauchte sie, „Lauf mir nicht weg, Willi.“
 
Sie verschwand in einem Hinterzimmer, von dem Willi Edithhm, dass es das Bad sein müsste, und liess Willi alleine auf dem Bett liegend zurück.
Willi fühlte sich pudelwohl. Er stöhnte und räkelte sich wohlig auf dem samtenen Laken. Er schloss die Augen und murmelte: „Peter und Fred...Ich kann’s einfach nicht glauben...Wenn ich das Martha erzähle...“

Soeben ist ihre Show mit dem Lied „Sag beim Abschied leise Servus“ zu Ende gegangen. Eigentlich war noch als Zugabe das hymnische Epos „Time To Say Goodbye“ geplant, doch nach einer Zugabe wurde nicht verlangt. Nach einem spärlichen Applaus, bei dem sich Peter und Fred höflich in Richtung des Publikums verbeugten, verliessen sie die Bühne und suchten ihre Garderobe auf.
  
„He Fred, hast du das gesehen? Dieses verfluchte kleine Dreckschwein hat seinen Teebeutel nach mir geworfen! Ich könnte diesen Scheisskerl...“
 
Sie sassen erschöpft vor dem beleuchteten Spiegel der Garderobe und waren gerade dabei, sich die Schminke aus dem Gesicht zu wischen. Der Spiegel vor ihnen war dreckig, und einige der kleinen Glühbirnen ringsherum waren ausgebrannt. Die kargen Holzstühle, auf denen sie sassen, fühlten sich kalt an.
 
„Na, reg dich nicht so auf, mein Junge. Es war doch nur ein Teebeutel.“
 
Fred nahm einen tiefen Schluck aus seinem Flachmann. Er war der Ältere von ihnen, und obschon sie beide jenseits der Sechzig waren, pflegte er seinen Partner immer noch mit „mein Junge“ anzusprechen.
 
„Nur ein Teebeutel? Nur ein Teebeutel, sagst du? Das Ding klebte mir während des halben Sinatra-Medleys auf der Backe, und ich Idiot hab’s nicht mal gemerkt. Ich dachte, die Leute würden wegen unserer Stepptanz-Nummer lachen.“
 
„Deswegen lachen sie schon lange nicht mehr“, sagte Fred leicht resigniert und betrachtete seinen Flachmann.
„Weisst du, mein Junge, ich habe mir was überlegt...“
„Nur ein Teebeutel! Was für eine Schande! Mir wär’s lieber, es wäre eine Bierflasche gewesen, oder meinetwegen ein ganzes Fass.“
„...vielleicht ist es langsam an der Zeit, mit dem ganzen Theater aufzuhören. Machen wir uns doch nichts vor, mein Junge. Wir sind nicht mehr die Jüngsten, und die alten Zeiten sind nicht mehr wiederzuholen.“
„Was sagst du da? Es läuft doch gerade ganz gut. Übermorgen spielen wir am Dorffest von Rüschlikon, nächste Woche sind wir bei der Betriebsfeier von Rempf und Sohn, und dann haben wir auch noch diese Sache mit dem Seniorenklub im österreichischen Fernsehen. Du wirst sehen, bald sind wir wieder ganz oben, Fred, wirst schon sehen!“
„Ich weiss nicht so recht, mein Junge. Heutzutage muss man dem Publikum schon was ganz Besonderes bieten, um sie von den Stühlen zu reissen. Und dazu sind wir einfach nicht mehr in der Lage.“
 
Fred nahm einen weiteren tiefen Schluck aus seinem Flachmann. Der Alkohol machte ihn trübselig, und er kriegte dann jedes Mal eine leichte Neigung zum Selbstmitleid.
 
„Verdammt, ich komme mir vor wie ein alter Tanzbär, dessen Glieder vor Arthritis schmerzen und dessen Kunststücke plump und lahm geworden sind. Die Leute kann er längst nicht mehr begeistern, und die rote Pappnase in seinem Gesicht jagt den Kindern höchstens noch Angst ein.“
„Na, jetzt übertreibe mal nicht!“, versuchte ihn Peter zu beschwichtigen.
„Ja genau, wir sind zwei ergraute Tanzbären, für die sich niemand mehr interessiert. Gib es doch zu! Ein Klavier spielender Schimpanse hätte weitaus mehr Erfolg als zwei alte Tanzbären.“
 
Peter wurde plötzlich ganz hellhörig.
 
„Ein Klavier spielender Schimpanse?“ fragte er erstaunt.
„Wie kommst du denn darauf? Hast du da was Bestimmtes im Kopf?“
 
Fred nahm noch einen Schluck. Dann sagte er:
 
„Nun ja, du kennst doch diesen Tierpfleger aus Zofingen. Wir spielten vor Kurzem bei der Hochzeit seiner Tochter. Er hat doch damals irgendwas von diesen Zwergschimpansen erzählt. Bonobos heissen die, soviel ich weiss. Das müssen ganz aussergewöhnlich intelligente Tiere sein. Manchen von ihnen hat man sogar beigebracht, mit so einer Art von Schreibmaschine umzugehen. Keine gewöhnliche Schreibmaschine mit Buchstaben und Ziffern, sondern irgend so ein spezielles Ding mit Tasten, auf denen Zeichen und Symbole aufgemalt sind. Einer dieser Affen hat es scheinbar fertiggebracht, sich über zweihundert solcher Zeichen zu merken. Hat dieser Affe zum Beispiel Lust auf eine Banane, so drückt er einfach auf die Taste mit der Banane drauf.“
 
„Ach, tatsächlich?“
„Ja, stell dir vor! Und hat er mal Lust auf eine Zucchini, dann drückt er einfach auf die Taste mit der Zucchini.“
„Ist ja irre! Ich wusste gar nicht, dass Schimpansen Zucchini mögen.“
„Darum geht’s doch gar nicht! Ich will damit nur sagen, dass der verfluchte Affe genau weiss, welche Taste er zu drücken hat, verstehst du? Und so einem Affen müsste es doch möglich sein, das Klavierspielen beizubringen. Ein Klavier hat schliesslich nicht mehr als 88 Tasten. Und wenn der Affe mit einer Schreibmaschine mit über zweihundert Tasten umzugehen versteht, dann müsste er auch mit einem verdammten Klavier zurechtkommen. Eine Schreibmaschine funktioniert doch auch so ähnlich wie ein Klavier.“
„Ja, das müsste möglich sein. Nur müsste man wahrscheinlich die Klaviertasten mit Bananen und Zucchini bemalen“, sagte Peter. „Gibt es eigentlich so viele Obstsorten wie Klaviertasten?“
„Das wäre das kleinste Problem.“
„Was denn noch?“
„Nun, Bonobos sind äusserst gesellige Tiere mit einem grossen Sexualtrieb. Das hat mir dieser Zoowärter auch erzählt. In freier Wildbahn leben sie in grossen Familienverbänden, wo die Männchen ständig am Rammeln sind, wenn sie nicht gerade fressen oder schlafen. Sie bespringen die Weibchen, die Jungen und einfach alles, was sich bewegt. Sogar die Männchen untereinander bespringen sich. Bei den Bonobos dient der Sex nämlich nicht bloss der reinen Fortpflanzung, wie bei anderen Säugetieren. Bei ihnen ist das Rammeln Bestandteil des Soziallebens, und wenn ein Bonobo einen andern rammelt, so sagt er ihm damit, dass er in seiner Gemeinschaft akzeptiert ist. Deswegen sind Bonobos wahrscheinlich auch so friedliebende Tiere und haben sehr selten Krach untereinander.“
„Die sind ja richtig zu beneiden“, staunte Peter. „Und wo ist denn da das Problem?“
„Tja, auch einem Bonobo in Gefangenschaft geht die Libido nicht ab. Und hat er niemanden zum Bumsen, so ist er den ganzen Tag am Onanieren.“
„Ja, das ist ein Problem,“ bestätigte Peter. „Ein Klavier spielender Affen, der sich zwischen dem Präludium und dem Adagio auf der Bühne einen runterholt? Nein, das kann man wirklich niemandem zumuten.“
 
Peter dachte nach.
 
„Und wenn wir einfach ein Weibchen nehmen würden? Einem Weibchen könnte man doch auch das Klavierspielen beibringen? Oder sind die Bonobo Weibchen etwa nicht so intelligent wie die Männchen?“
„Doch, doch, das schon, aber...“
„Aber was?“
„Nun, das Problem bleibt dasselbe. Wenn das Bonoboweibchen nicht regelmässig begattet wird, dann kriegt es Depressionen. Es fühlt sich dann nicht wohl in seiner Umgebung. Es hat das Gefühl, von der Gesellschaft nicht akzeptiert zu sein.“
„Hm...“
 
Die Beiden sassen nebeneinander vor dem Spiegel und dachten darüber nach, wie man dieses Problem beheben könnte. Zwischendurch nahm Fred einen Schluck aus seinem Flachmann. Nach einigen Sekunden des Schweigens blickten sie sich etwas beschämt von der Seite an.
 
„Denk nicht mal im Traum daran!“, brummte Fred böse.
„Ist ja schon gut“, beschwichtigte Peter, „Ich dachte nur, wenn das Weibchen so deprimiert ist, dann würde es vielleicht traurige Balladen spielen, Schubert-Lieder und so.“
„Ach, Blödsinn! Wer will schon einen depressiven Affen sehen, der Schubert-Lieder auf dem Klavier spielt. Die Leute wollen Affen sehen, weil sie so lustig sind.“
„Dann nehmen wir eben doch ein Männchen. Wir müssten ihm einfach eine Hose anziehen. Mit spezieller Verstärkung im Schritt.“
„Vielleicht.“
„Oder man mischt ihm was ins Essen, was seine Libido zügelt. So eine Art Antiaphrodisiakum. Ich habe gehört, dass man das in Gefängnissen so macht. Scheinbar gibt man den Insassen Natriumnitrat ins Essen, damit sie nicht jede Nacht die Bettlaken beflecken. Das müsste doch eigentlich auch bei einem Affen funktionieren.“
„Ja, das müsste funktionieren“, bestätigte Fred.
 
Nun sassen die Beide wieder schweigend vor dem Spiegel, wischten sich die Schminke aus dem Gesicht und dachten über die Möglichkeiten mit einem Klavier spielenden Schimpansen nach. Zwischendurch nahm Fred immer wieder einen Schluck aus seinem Flachmann.
 
„Hab ich dir eigentlich schon gesagt, dass du riechst?“, unterbrach Fred die Stille.
„Was?“
„Du riechst!“
 
Phase zwei von Freds Alkoholrausch war soeben eingetreten. Nach der Phase des Selbstmitleids kennzeichnete sich die zweite Phase durch leichten Übermut und erhöhte Streitsucht. Und obwohl Peter die Gemütswechsel seines Partners schon Jahre bekannt waren, wusste er immer noch nicht, wie er ihnen begegnen sollte. Er lief rot an und schrie entrüstet:
 
„Das musst ausgerechnet du mir sagen! Du mit deiner feuchten Aussprache! Weisst du eigentlich, dass du deine Körperfunktionen langsam nicht mehr unter Kontrolle hast? Oder glaubst du wirklich, die Leute in den ersten drei Reihen hatten alle Sommersprossen?“
 
Es klopfte an der Garderobentür. Ohne eine Antwort abzuwarten, ging die Tür auf, und Edith trat ein.
 
„Hallo Männer! Ihr wart wieder mal grossartig heute Abend“, log sie.
 
Edith war Peter und Freds Agentin. Sie kümmerte sich um die alternden Künstler, seit sie aus den renommierten Agenturen rausgeflogen sind. Hinter Edith stand Gregor, ihr zwölfjähriger Sohn.

„Du brauchst uns nicht anzulügen, Schatz“, sagte Fred und nahm einen Schluck aus dem Flachmann.
„Vielleicht müsste ich das auch nicht, wenn du nicht soviel trinken würdest.“ Edith nahm ihm den Flachmann aus der Hand.
„Du weisst genau, dass das nicht gut für dich ist. Wenn du trinkst, dann wirst du zuerst trübselig, danach streitsüchtig, und schliesslich verlierst du die Kontrolle über deine Körperfunktionen.“
 
Plötzlich ertönte ein herrlicher Dur-Dreiklang in Fis.
 
„Was war das?“, fragte Peter und sah sich verwundert um.
„Das war Gregor“, sagte Edith.
 
Gregor stand neben seiner Mutter und bohrte in der Nase. Er war ein dicklicher, kleiner Junge mit kurzem, roten Haar und einer Brille mit dicken Gläsern in seinem sommersprossigen Gesicht. Gregor hätte genauso gut Freds wie Peters Sohn sein können, denn damals, als Edith das Management des Duos übernahm, hatte sie sich den Beiden gleichzeitig intensiv gewidmet, um sie wieder in Schwung zu bringen.
 
„Manchmal übt er heimlich“, sagte Edith.
 
Peter und Fred sahen den Jungen erstaunt an.
 
„Könntet du das gleich noch mal machen, Kleiner?“, fragte Fred.
 
Gregor zog den Finger aus der Nase und holte tief Luft. Dann ertönte eine perfekte 1-6-2-5-Kadenz in Cis.
 
„Das ist ja fantastisch! Der Kleine furzt mehrstimmig!“
 
Peter und Fred waren sichtlich beeindruckt. Bisher hatten sie sich noch nie so recht um den Jungen gekümmert. Dazu waren sie zu beschäftigt mit sich selbst und ihrer Karriere, und es hatte sie deshalb auch nie interessiert, wer nun der wirkliche Vater des Jungen war.
 
Nun furzte Gregor die vierte Invention von Johann Sebastian Bach in D-Moll, und tatsächlich ertönte die obere Melodielinie gleichzeitig zum unteren Kontrapunkt.
 
Peter erhob sich aus dem Stuhl, beugte sich zum Jungen runter und schaute ihm ernst ins Gesicht.
 
„Sag mal, Kleiner, kennst du den ‘Hummelflug’ von Rimsky-Korssakoff?“
„Klar“, sagte Gregor leicht gelangweilt.
„Ok. Du machst die Begleitung, und ich übernehme den Solo-Part. Bereit?“
„Klar“, sagte Gregor.
„Eins...zwei...drei...vier...“, gab Peter das Tempo vor, und die beiden legten los.
 
Gregor furzte drauf los wie ein durchgeknallter holländischer Orgelwagen. Er furzte gleichzeitig die Bässe, die Geigen, die Pauken und die Trompeten und zog das Tempo immer mehr an, so dass Peter Mühe hatte, mit der Solostimme mitzuhalten. Dazu führte Gregor einen irrwitzigen Tanz auf, wirbelte umher und wedelte mit Armen und Beinen in der Luft umher, als wäre er ein mit Koks vollgedröhnter Break-Dancer. Als er das Tempo nochmals hochschraubte, verlor Peter vollends den Anschluss und musste sich an Fred festhalten, um nicht umzukippen. Doch Gregor übernahm dann sogleich auch die Melodielinie und beendete Rimsky-Korssakoff’s Hummelflug in einem dramatischen Fortissimo.
 
„Das ist ja fantastisch!“, staunte Fred, nachdem Gregor fertig war. Nun stand der Junge wieder gelassen da, hatte seine Hände in die Hosentaschen gesteckt und schaute gelangweilt an die Zimmerdecke. Peter war völlig ausser Atem und liess sich in den Stuhl fallen.
 
„Er ist auch bildnerisch begabt“, sagte Gregors Mutter.
„Ach, er malt?“, fragte Fred.
„Nein, eher plastisch“, sagte Edith.
„Skulpturen?“, fragte Fred.
„Nun, wisst ihr, wenn Gregor kackt, dann macht er nicht einfach nur die üblichen Häufchen. Bei ihm sieht das immer nach irgendetwas aus. Manchmal macht er kleine Tierfiguren, Hunde, Delphine und so, oder auch Rennwagen und Traktoren. Ich habe keine Ahnung, wie er das macht. Letzthin hat er ein Häufchen kreiert, das hat genauso ausgesehen wie eine Miniatur von Michelangelos David.“
„Ach, tatsächlich? Ist ja toll!“
 
Inzwischen hatte sich Peter wieder einigermassen erholt und sass schwer atmend im Stuhl neben dem Garderobespiegel.
 
„Weisst du, Fred, vielleicht hast du ja recht“, keuchte er. „Vielleicht sollten wir tatsächlich daran denken, langsam mit der Furzerei aufzuhören. Wir sind wirklich nicht mehr die Jüngsten und führen uns auf wie zwei lächerliche, alte Tanzbären.“
„Ja, mein Junge, wir sind alt geworden.“
 
Fred war ins Grübeln geraten. Er stand auf und schritt in der kleinen Garderobe auf und ab wie ein Löwe im Käfig. Dabei murmelte er etwas vor sich hin und schaute immer zu diesem Jungen, der da vor ihm stand, die Hände in den Hosentaschen vergraben und zur Decke blickend. Und plötzlich hatte Fred eine Idee. Er lächelte vergnügt und bückte sich zu Gregor hinunter.
 
„He, Kleiner“, sagte Fred mit süsslicher Stimme, „du magst doch Tiere.“
„Klar“, sagte Gregor leicht gelangweilt.
„Auch Affen, Schimpansen und so?“
 
Es war lange her, dass sich Willi so wohl gefühlt hatte. Er lag auf diesem grossen, runden Bett, war nackt, jeden Augenblick würde eine atemberaubend schöne Frau zu ihm ins Bett steigen, und zwischen seinen Beinen hatte er eine riesige Erektion. Wohlig wälzte er sich auf dem Bett und schaute nach oben. Er bemerkte, dass an der Decke des Zimmers ein grosser Spiegel angebracht war. Im Spiegel sah er, dass er noch immer diesen Strumpfgürtel und die Netzstrümpfe anhatte. Das kam ihm etwas lächerlich vor. Was ihn aber noch mehr erstaunte, war die Grösse seiner Erektion. Wegen seines recht erheblichen Bauchumfangs konnte er das vom blossen Auge nicht feststellen. Doch im Spiegelbild an der Decke stieg ein prachtvoller, mächtiger Phallus zwischen seinen Beinen empor, und Willi konnte es in seiner Bewunderung nicht lassen, dieses Prunkstück mit beiden Händen zu umfassen.
 
„Willi, was machst du denn da?“, hörte er plötzlich eine kreischende Stimme schreien. Willi erschrak. Die Stimme kam ihm seltsam bekannt vor. Er löste den Blick von seinem Spiegelbild an der Decke und wandte sich um.
 
„Mutter, was machst du denn da?“, rief er verwundert.
 
Neben dem Bett stand Willis Mutter. Sie blickte entgeistert auf Willis Schamgegend, und vor Bestürzung hielt sie sich beide Hände vors Gesicht.
 
„Willi, du Schwein!“, schrie sie.
„Aber...“
„Habe ich dir nicht schon tausendmal gesagt, dass man sich nicht selbst anfassen darf?“, schrie Willis Mutter.
„Aber Mutter...“
„Oh mein Gott, wenn das dein armer Vater wüsste!“
„Aber Mutter...“
„Und jetzt zieh auf der Stelle meine Strümpfe aus, du widerliches Schwein, du...!“
„Ja, Mama.“
„Du weisst doch, was man mit kleinen, ungehorsamen Buben macht, die es nicht lassen können, sich selbst zu berühren!“
„Nein, Mama.“
„Man schneidet ihnen das Zipfelchen ab“, sagte Willis Mutter und hielt plötzlich eine grosse Schere in den Händen. Sie lächelte und ging langsam mit der Schere auf das Bett zu.
 
„Mama, nein...Mama...NAAAAAIIIIIIIIIIIN!!!“
 
Kräuter hob schlagartig seinen Kopf von der Öffnung des leeren Einmachglases. Er war völlig ausser Atem. Draussen schlug die Kirchenglocke elf Mal.
 
„Oh Scheisse!“, schoss es ihm durch den Kopf, „Wo hat dieser verfluchte Sikorsky bloss dieses irre Zeug her?“

Kapitel 6

Die Falle
                                                                                            „Einen schlechten Scherz kann man aufbessern, indem man ihn ständig wiederholt.“
                                                                                            (Weibels Clownschule, Band 2)
        „Wach auf, Willi. Zeit zum Aufstehen!“
        Martha rüttelte ihren Ehemann aus dem Schlaf.
        „Wie spät ist es denn?“ murmelte er benommen.
        „Zeit fürs Büro“, sagte sie.
        „Hast wohl wieder von deiner Mutter geträumt, was?“
        Willi wälzte sich im Bett herum und brummte widerwillig etwas vor sich hin.
        „Wenn das so weitergeht, dann müssen wir uns getrennte Schlafzimmer besorgen. Ausserdem furzt du im Schlaf, weisst du das?“, sagte Martha.
        „Was für ein Tag ist denn heute?“, fragte er.
        „Donnerstag natürlich.“
        „Donnerstag? Das ist gut“, brummte er ins Kopfkissen.
Donnerstag war der einzige Tag der Woche, an dem Kräuter nicht an Sikorskys Einmachgläsern schnüffelte.
Kräuters Vorgesetzter, der Inhaber der Treuhandgesellschaft Rempf & Sohn, hiess Erwin Rempf. Rempf hatte nicht viel übrig für Kräuters Scherze. Seine ganze Welt schien bloss aus Zahlen und Bilanzen zu bestehen, sonst gönnte er sich nicht viel. Sämtliche Zeit und Energie steckte er in seine Arbeit, und die Firma florierte recht gut.
Rempf war nicht verheiratet, und soweit Kräuter bekannt war, hatte er auch keine Freundin und keine Kinder. Den Zusatz des Firmennamens „& Sohn“ hatte er sich ausgedacht, um eine Aura der Familiarität über die Gesellschaft zu legen. Das klang vertrauenswürdig und kam gut an bei der Kundschaft. Die Institution Rempf & Sohn verfügte über einen hervorragenden Ruf weit über die Landesgrenzen hinaus.
Auf Kräuter hätte Rempf gerne verzichtet, denn wie gesagt hatte er nicht viel übrig für seine Scherze, und sein ewiges Geplapper ging ihm mächtig auf die Nerven. Doch konnte er sich über Kräuters Arbeit nicht beklagen. Seine Buchführung war immer korrekt, und die Investitionen, die er für seine Klienten tätigte, hatten der Firma schon einiges eingebracht. Auch musste er sich zugestehen, dass es unter seiner Klientel Leute gab, die Kräuters Art durchaus schätzten, und deshalb musste er ihn wohl oder übel auch weiterhin ertragen. Immerhin hatten sie sich geeinigt, Kräuters Arbeitszeit zu reduzieren, und so hatte Rempf wenigstens donnerstags Ruhe vor dieser Nervensäge.
„Montag um zehn Uhr kommt die Delegation aus Japan. Ich möchte Sie bei der Besprechung dabeihaben, Kräuter. Hier sind die Unterlagen.“
Rempf warf ihm einen Stoss Dokumente hin, so dass die Einmachgläser klirrten, die ringsherum auf dem Schreibtisch standen.
„Onky-Donky Chef, es wird mir ein grosses Vergnügen sein, diesen Schlitzaugen...“
„Und räumen sie gefälligst diesen Saustall von Ihrem Schreibtisch. Wir führen hier keine Süsswarenhandlung!“
Rempf warf die Tür hinter Kräuters Büro zu, und erneut klirrten die Einmachgläser auf dem Schreibtisch.
        „Welch humorloser Fatzke“, sagte sich Kräuter, griff sich ein Glas, hob den Deckel hoch und sog die Luft in seine Lungen.
        Kräuter stand auf einer grell beleuchteten Bühne und hatte eine E-Gitarre um seinen Hals gehängt. Aus riesigen Lautsprecherboxen rings um ihn dröhnte ohrenbetäubender Lärm. Die Farben der Scheinwerfer über ihm schienen sich dauernd zu verändern, und farbige Lichtkegel tanzten um Kräuter herum.
Vor ihm im Saal waren Tausende von Leuten, doch Kräuter, geblendet vom gleissenden Licht der Scheinwerfer, sah sie nicht. Er sah nur ein Schlagzeug hinter ihm auf der Bühne, und ein junger, zorniger Mann drosch wie verrückt darauf ein. Ein weiterer junger, zorniger Mann mit einem Elektrobass um den Hals stand neben ihm und bearbeitete sein Instrument. Dazu hüpfte er umher und zuckte, als würde er gegen einen epileptischen Anfall ankämpfen, und der Bass dröhnte aus den Boxen, so dass Kräuter den Eindruck hatte, er befinde sich im Düsenstrahl eines startenden Jumbo-Jets. Und das fühlte sich geil an. Adrenalin schoss durch seine Adern.
Kräuter war mit der Gitarre beschäftigt, die ihm in den Lenden hing. Die Finger seiner linken Hand krabbelten den Gitarrenhals rauf und runter, und seine rechte Hand hielt ein Plektrum umklammert und bearbeitete damit die Saiten. Er spürte, dass die Gitarre ein Teil von ihm war, die Verlängerung seines Penis, und der Saft strömte und pulsierte in den erregten Saiten. Die Gitarre kreischte in einem nicht enden wollenden Orgasmus.
Kräuter hüpfte rüber zum jungen, zornigen Mann mit dem Bass um den Hals, und beide führten zum Rhythmus ihrer höllischen Musik einen irrwitzigen Tanz auf. Dabei wirbelten sie wild mit dem Kopf im herum, sodass Kräuters lange Haarmähne im Kreis herumschleuderte.
Dann machte Kräuter einen Satz nach vorne, ging in die Knie und rutschte darauf bis an den Bühnenrand, wo ihm Hunderte von Armen entgegengestreckt wurden. Er hielt seine Gitarre hoch, und während er sein ekstatisches Gitarrensolo mit wahnsinnigen Power-Kicks weiterführte, sah er in die weit aufgerissenen Augen und Mäuler des begeisterten Publikums...
Kräuter hob den Kopf vom Einmachglas und fühlte sich geil.
Montagmorgen um zehn sassen Kräuter und Rempf am Tisch des Konferenzraumes. Ihnen gegenüber sassen zwei Herren. Der ältere von ihnen hatte nach hinten gekämmtes, grau meliertes Haar über seinem knochigen Gesicht, das aussah wie aus edlem Holz geschnitzt. Ein graues Bärtchen umrahmte seinen Mund. Er trug einen teuren, grauen Massanzug, weisses Hemd und graue Krawatte.
Der jüngere hatte tiefschwarze, halblange Haare mit perfektem Seitenscheitel. In seinem ausdruckslosen, glattrasiertem Gesicht sass eine schwarze Sonnenbrille, die er trotz des gedämpften Lichts im Konferenzraum nicht abnahm. Er trug einen schwarzen Anzug, weisses Hemd und schwarze Krawatte. Seine Hände verbarg er unter dem Tisch.
Hinter ihnen stand die Dolmetscherin. Sie trug die traditionelle Tracht einer japanischen Geisha. Ihr langes, schwarzes Haar hatte sie zu einer kunstvollen Frisur nach oben gesteckt, zusammengehalten von zwei Stricknadeln. Ihr weisser, mit hübschen Verzierungen bestickter Kimono wurde von einer roten Schleife zusammengehalten. Das zierliche Gesicht war weiss gepudert und sah aus wie aus Marzipan gegossen.
Der ältere Japaner sagte einige Worte in seiner Landessprache und machte daraufhin eine tiefe Verbeugung, der sich auch der jüngere anschloss.
„Herr Sushimoto sagt, er sei sehr glücklich, in Ihrem schönen Land zu sein“, übersetzte die Geisha, wobei sich ihr schmaler Mund kaum bewegte.
„Sagen Sie Herrn Sushimoto, dass wir sehr stolz sind, ihn bei uns begrüssen zu dürfen“, erwiderte Rempf und machte ebenfalls eine kleine Verbeugung. Die Geisha übersetzte seine Worte ins Japanische, und daraufhin machte der ältere Japaner eine tiefe Verbeugung und murmelte einige Worte.
„Die Ehre ist ganz auf unserer Seite“, sagte die Geisha.
Kräuter war fasziniert vom Anblick dieses zierlichen Geschöpfes, welches wie ein Marzipanfigürchen hinter den zwei Herren aus Japan stand. Er starrte sie unentwegt an.
„Wir sind sehr froh, dass Herr Sushimoto gedenkt, unsere Firma auszuwählen, um die Investitionsmöglichkeiten des Mitsubishi-Konzerns in unserem Land zu prüfen. Sagen Sie Herrn Sushimoto, er kann sich auf unsere Diskretion, unsere Loyalität und unsere Zuverlässigkeit voll und ganz verlassen“, sagte Rempf mit ehrfurchtsvoller Miene, wobei er sich leicht vorbeugte und unter dem Tisch seine Hände rieb.
Die Geisha übersetzte ins Japanische.
Kräuter starrte sie an und grinste. Ihr Anblick hatte ihn sichtlich erregt. Zu seinen Füssen lag eine Aktentasche. Während der ehrwürdige alte Japaner, der ihm gegenübersass, in seiner Landessprache redete, neigte Kräuter seinen schwitzenden Oberkörper leicht zur Seite, fasste mit der rechten Hand in die Tasche und zog daraus ein Einmachglas hervor. Er stellte das Glas vorsichtig auf den Stuhl zwischen seine Oberschenkel, wo es niemand sehen konnte.
„Herr Sushimoto sagt, der Ruf Ihrer Institution sei bis in die fernsten Winkel seines Landes vorgedrungen, und die Zuverlässigkeit Ihrer Dienste habe die Qualität einer Schweizer Armbanduhr, oder wie man bei uns in Japan zu sagen pflegt...“
Noch bevor die Geisha zu Ende gesprochen hatte, tat Mathisen eine tiefe, ehrwürdige Verneigung nach vorne, wobei er gleichzeitig unter dem Tisch den Verschluss des Einmachglases öffnete. Als er mit seinem Kopf fast schon die Tischkante berührte, hob er das Einmachglas an die Nase und zog kräftig die Luft ein, so dass ein lautes Schnäuzen zu hören war.
Kräuter befand sich in einem Schlafzimmer. Es war Tag, aber die Vorhänge waren zugezogen, und es war dämmrig im Zimmer. Es war sein eigenes Schlafzimmer. Er lag nackt im Bett. Es war sein eigenes Bett. Unter ihm lag eine Frau, und er drang mit kräftigen Stössen seiner Lenden in sie ein. Es war seine eigene Frau, was recht ungewöhnlich war, denn obwohl sich die Kräuters das Ehebett teilten, hatten sie seit Jahren keinen Sex mehr. Die Frau stöhnte.
„Oh ja, Erwin, ja, du machst das so gut!“
Kräuter bäumte sich auf. Seine Stösse wurden heftiger. Er stöhnte laut auf und kam. Dann rollte er zur Seite.
Kräuter lag in seinem eigenen Bett seines eigenen Schlafzimmers neben seiner eigenen Frau, aber er war im Körper eines anderen. Willi Kräuter war Erwin Rempf.
„Ach Erwin, es ist so schön mit dir“, hauchte ihm Martha ins Ohr und schmiegte sich an seine Brust.
Rempf küsste Martha aufs Ohrläppchen und streichelte ihre Schulter. Dann langte er zum Nachttisch rüber und kramte eine Zigarette aus der Schachtel. Dabei bemerkte er, dass etwas in den hölzernen Bettpfosten eingeritzt war. Rempf las die Inschrift.
TAMAL MOSSIANI WAS HERE
Er beachtete es nicht weiter und steckte sich die Zigarette in den Mundwinkel. Martha gab ihm Feuer.
„Wann kommen deine Kinder nach Hause?“, fragte Rempf.
„Wir haben noch reichlich Zeit, mein Hase.“
Rempf tat einen genüsslichen Zug aus seiner Zigarette und blies den Rauch an die Decke. Er betrachtete die bläulichen Rauchschleier, wie sie langsam durch den Raum zogen.
„Dein Mann ist heute wohl wieder bei seiner kleinen Vorstadt-Hure“, sagte er und lächelte.
Martha löste sich von ihm los, stieg aus dem Bett und ging rüber zur Kommode, auf der eine Flasche Whisky und zwei Gläser standen.
„Ja, heute ist Donnerstag“, meinte sie, während sie die zwei Gläser füllte.
„Nimmst du Eis?“
„Ach, bemüh dich nicht, mein Schatz?“
Sie kam mit den zwei Gläsern wieder zurück ins Bett und reichte ihm das Eine. Dann zündete auch sie sich eine Zigarette an.
„Und am Abend ist er beim Treffen der anonymen Alkoholiker“.
Sie lachten beide laut auf und stiessen mit ihren Gläsern an.
„Dieser Idiot!“, lachte Rempf.
Oder war es Kräuter, der über sich selbst lachte, weil sein eigener Chef in seinem eigenen Haus in seinem eigenen Bett sich über ihn lustig machte, nachdem er seine eigene Frau gevögelt hatte? Es ist komplizierte. Doch dies war der Moment als Willi Kräuter der Faden riss.
„...beim Flügelschlag des Kranichs neigt sich die Lotusblume im Wind.“,
beendete die Geisha ihren Satz.
Kräuter liess das Einmachglas fallen. Mit einem dumpfen Geräusch schlug es auf dem Teppichboden auf und rollte unter dem Tisch hervor, wo es für alle Anwesenden sichtbar war. Einen Moment lang herrschte völlige Stille im Raum, und alle blickten auf das Einmachglas am Boden.
„Kräuter, was machen Sie denn da!“, zischte ihn Rempf von der Seite an. Die Geisha übersetzte. Die zwei Japaner schauten sich erstaunt an.
Kräuter war ganz blass geworden. Kalter Schweiss stand ihm auf der Stirn. Sein breites Grinsen war verschwunden. Stattdessen starrte er mit weit aufgerissenen Augen ins Leere.
„Reissen Sie sich gefälligst zusammen, Sie Idiot!“
Die Geisha übersetzte.
„Idiot?“ fragte der ältere Japaner den jüngeren.
„Idiot!“, bestätigte der Jüngere.
Kräuters Gesicht schien sich aufzublähen, seine Nasenlöcher weiteten sich und seine Gesichtsfarbe wechselte zu Rot. Dann stiess er einen fürchterlichen Schrei aus, stürzte sich auf Rempf, riss ihn vom Stuhl, und unter wildem Geschrei fasste er ihm an die Gurgel.
        „Kräuter, sind sie verrückt geworden?“ schrie Rempf, während er sich aus dem Würgegriff zu befreien versuchte.
Die Geisha übersetzte.
        Der jüngere Japaner wandte sich zum älteren, der sich die Szenerie stirnrunzelnd ansah.
        „Verrückt?“, fragte er.
„Hai!“, bestätigte der Ältere.
        „Kräuter, Sie sind entlassen!“, keuchte Rempf unter Kräuters Würgegriff.
Kräuter liess von ihm ab.
„Packen Sie Ihre Sachen und verschwinden Sie. Ich will Sie hier nie wieder sehen, Sie verrückter Idiot!“
Darauf war Kräuter vorbereitet. Während Rempf sich vom Boden aufrichtete und Worte der Entschuldigung seinen japanischen Gästen entgegenstammelte, stürzte Kräuter aus dem Konferenzsaal. Er knallte die Tür hinter sich zu und eilte in sein Büro. Hastig suchte er nach dem Schlüssel zum Safe, der hinter seinem Schreibtisch stand. Er fand ihn in seiner Hosentasche und öffnete den Tresor. Neben einigen Dokumenten lagen dort ein Aktenkoffer, ein Einmachglas und ein Papierhut. Der Koffer war voller Geldscheine. Auf dem Einmachglas war eine Etikette aufgeklebt. Darauf stand in grossen fetten Buchstaben:
NOTAUSGANG
Kleingedruckt war darunter geschrieben:
        Gebrauchsanweisung:
Achtung: Nur im äussersten Notfall zu verwenden!
Setzen sie sich den Papierhut auf, öffnen Sie das Glas, führen Sie Ihre Nase an die Öffnung und inhalieren sie kräftig.
Keine fremden Gegenstände mitführen!
Vor Kleinkindern fernhalten!
Kräuter griff sich den Aktenkoffer, öffnete ihn, warf seine Brieftasche hinein und schloss ihn wieder. Er klemmte sich den Aktenkoffer zwischen die Beine und setzte sich den Papierhut auf den Kopf.
„Verfluchter Sikorsky!“, knirschte er dabei.
Dann nahm er das Einmachglas in die Hände, hob es an seine Nase, öffnete den Verschluss und zog kräftig die Luft in seine Lungen.
Kräuter verschwand.
Es war ein guter Tag. Willi schlenderte durch die Stadt, summte eine Melodie und war glücklich. Er hatte endlich das passende Geschenk gefunden. Die Sonne schien an diesem späten Herbstnachmittag, und ihre Strahlen trockneten den nassen Asphalt und wärmten Willis Herz.
Willi hielt das Geschenk vorsichtig in beiden Händen. Er hätte es getrost in seine Manteltasche stecken können, denn das Päckchen war ziemlich klein und hätte problemlos in seinen weiten Manteltaschen Platz gefunden. Doch Willi wollte vermeiden, dass das schöne Geschenkpapier aus goldener Folie Schaden nehmen oder die Schleife des roten Bandes, welches kunstvoll ums Päckchen gewunden war, sich in seinen Mantelknöpfen verheddern würde. So hielt er also das kleine Päckchen vorsichtig mit beiden Händen vor sich, schaute es die ganze Zeit mit strahlenden Augen an und schlenderte durch die Strassen.
        Willi beschloss, mit dem Geschenk noch etwas zu warten. Dieser Herbstnachmittag war dermassen prächtig und Willi fühlte sich so glücklich, dass er diesen Moment der Vorfreude auf die Geschenkübergabe noch ein wenig hinauszögern wollte. Er schlenderte entlang der feinen Geschäfte, die den breiten Boulevard der Fussgängerzone zu beiden Seiten säumten, summte eine Melodie und strahlte vor sich hin.
Der Boulevard war voller Leute und voller Leben. Junge Mütter schoben ihre Kinderwagen vor sich her, vor den Cafés sassen Menschen und genossen einen der letzten warmen Tage dieses Jahres, jung verliebte Pärchen schauten sich die Vitrinen der Juweliergeschäfte an, und hin und wieder huschte ein übermütiger, kleiner Junge mit seinem Dreirad ganz knapp an Willi vorüber. Es herrschte überall ein heiteres Treiben.
        Vor einem Konfektionsgeschäft blieb er stehen. Er drehte sich um zum Schaufenster und betrachtete sein Spiegelbild, das sich in der blank polierten Fensterscheibe zeigte. Er lächelte sich zu, wiegte sich leicht in der Hüfte, als würde er ein kleines Tänzchen aufführen, und der Singsang seiner Melodie wurde etwas lauter.
Plötzlich erstarrte er, und sein Singsang verstummte. Sein Blick wurde ernst, und er trat einen Schritt näher an sein Spiegelbild. Er beugte sich vor und blickte kritisch in das Gesicht, das sich im Schaufenster des Konfektionsgeschäftes spiegelte. Dicke Runzeln des Missbehagens bildeten sich zwischen seinen Augen.
Vorsichtig tat er das Geschenk in die Manteltasche. Dann nahm er seinen Filzhut vom Kopf. Er drehte den Hut langsam zwischen seinen Händen, betrachtete ihn sorgfältig von allen Seiten und murmelte etwas Unverständliches. Er blickte sich um und suchte den Eingang zum Konfektionsgeschäft. Er ging auf die Glastür zu, stiess sie auf, und während er seinen Filzhut immer noch in den Händen hielt, betrat er das Konfektionsgeschäft.
Ein junger, adrett gekleideter Verkäufer grüsste ihn freundlich.
„Einen schönen guten Tag, mein Herr. Was kann ich für Sie tun, mein Herr?“
Willi hielt ihm seinen Filzhut hin.
        „Einmal Hut auffrischen“, sagte er.
Der Verkäufer nahm den Hut entgegen und sagte:
        „Aber gerne mein Herr. Nur einen Augenblick, bitte“.
Er verschwand mit Willis Hut in einem Hinterzimmer. Kurz darauf ertönte ein Motorengeräusch, wie von einer grossen Zentrifuge. Das Motorengeräusch verstummte gleich wieder, und stattdessen waren nun einige kurz nacheinander folgende Zischlaute zu hören. Dann kam der Verkäufer mit Willis Hut in der Hand wieder zum Vorschein.
        „So, dass hätten wir, mein Herr“, sagte er zu Willi, „ist so gut wie neu.“
Er reichte Willi den Hut. Willi drehte den aufgefrischten Hut prüfend zwischen den Händen und schnupperte daran mit seiner Nase. Er roch nach Veilchen. Dann setzte er den Hut bedächtig auf den Kopf, blickte in den Spiegel, der hinter der Theke neben dem adretten Verkäufer stand, und lächelte zufrieden.
        „Das macht dann neun Tand, bitte schön der Herr.“
Willi langte in seine Hosentasche und zog einen kleinen Lederbeutel hervor. Er klaubte daraus zwei rote Glasmurmeln und reichte sie dem Verkäufer. Der Verkäufer ging hinter die Registrierkasse, legte die Murmeln hinein, schrieb eine Quittung und reichte sie Willi zusammen mit einer grünen Glasmurmel.
        „Vielen Dank, der Herr, und beehren Sie uns bald wieder“, sagte der Verkäufer.
Willi steckte die grüne Murmel in seine Hosentasche, und der Verkäufer eilte zur Tür und hielt sie auf. Während Willi an ihm vorbei nach draussen ging, machte der Verkäufer eine tiefe Verbeugung und sagte:
„Auf Wiedersehen, der Herr, und einen schönen Tag noch.“
Zurück auf der Strasse stellte sich Willi wieder vor das Schaufenster und betrachtete sein Spiegelbild. Er strich mit den Fingern kurz an der Hutkrempe entlang, lächelte und zwinkerte sich zu. Plötzlich erschrak er, als würde ihm etwas Unangenehmes an seinem Spiegelbild auffallen.
Behutsam steckte er die Hand in die Manteltasche. Vorsichtig holte er das Päckchen daraus hervor. Er hielt es vor die Augen und drehte es herum.
Das Geschenkpapier aus goldener Folie war an einigen Stellen etwas angekratzt, und die Schleife des roten Bandes hatte in der Manteltasche ein paar Falten abbekommen. Doch es war nicht allzu schlimm, und der Anblick dieses wunderschönen Päckchens erwärmte erneut sein Herz.
Nun konnte er es kaum noch abwarten, das Geschenk endlich zu überbringen. Mit ausladenden Schritten machte er sich auf den Weg. Das Päckchen hielt er dabei in beiden Händen vor sich, und während er an den Geschäften der Fussgängerzone entlang schritt, summte er eine eigenartige, monotone Melodie.
Vor dem Eingang eines Herrenfriseurs blieb er stehen. Durch die Scheibe hindurch blickte er in den Laden, wo der Friseur kurz vor Ladenschluss den Boden fegte. Willi fasste sich hinter den Kopf unter seinem Hut an den Nacken. Er murmelte irgendwas Unverständliches. Dann wandte er sich um und stiess die Türe zum Friseursalon auf. Ein Glöckchen an der Tür klingelte. Der Friseur mit einer Zigarette im Mundwinkel und dem Besen in der Hand schaute ihn leicht missbilligend an.
„Einmal Nacken ausrasieren, bitte“, sagte Willi.
Der Friseur blickte auf seine Armbanduhr.
        „Na schön, dann setzten Sie sich hier hin!“, brummte er und legte den Besen beiseite.
Willi setzte sich in den Stuhl vor dem grossen Spiegel. Er betrachtete sein Spiegelbild, lächelte sich an und zwinkerte mit dem Auge.
        „Geben Sie mir Ihren Hut,“ sagte der Friseur. Willi nahm den aufgefrischten Hut vom Kopf, führte ihn nochmals an seiner Nase entlang und reichte ihn voller Stolz dem Friseur.
        „Und das sollten wir besser auch irgendwo anders hinstellen.“
Der Friseur deutete auf das Päckchen, das Willi zwischen seinen Händen im Schoss hielt. Willi war plötzlich verunsichert.
        „Keine Angst, es wird schon nicht verschwinden,“ sagte der Friseur, nahm ihm das Päckchen vom Schoss und legte es auf einen Tisch, wo Zeitschriften herumlagen.
        „Ist wohl ein Geschenk?“, fragte der Friseur beiläufig, während er eine weisse Schürze um Willis Hals wickelte. Willis Blick war auf den Tisch mit den Zeitschriften und dem Päckchen fixiert.
        „Hmm...“, meinte er.
Der Friseur machte sich mit dem Rasierapparat hinter Willi zu schaffen. Der Apparat surrte leise, und Willi empfand ein wohlig warmes Kribbeln im Nacken.
        „Da wird sich bestimmt jemand mächtig freuen“, meinte der Friseur.
        „Hmm...“, antwortete Willi, dessen Blick nicht von der Stelle wich.
Der Friseur schaltete den Apparat aus, fegte mit einem grossen Pinsel kurz über Willis Nacken und nahm ihm die Schürze ab.
        „So, das wär’s“, sagte der Friseur und schüttelte Willis Nackenhaare von der Schürze.
Willi erhob sich hastig aus dem Stuhl und eilte hinüber zum Tisch mit den Zeitschriften. Er nahm das Päckchen in die Hand und streichelte es zärtlich.
        „Macht zehn Tand.“
Willi langte in seine Hosentasche und reichte dem Friseur eine Handvoll farbiger Glasperlen. Der Friseur suchte sich aus dem Häufchen von Murmeln fünf gelbe heraus und gab ihm die restlichen zurück.
        „Ihren schönen Hut sollten Sie nicht vergessen,“ rief ihm der Friseur nach, als Willi bereits zur Tür hinausstürmen wollte.
Willi riss ihm den Hut aus der Hand, warf dem Friseur einen kurzen Blick zu, der eine Mischung aus Verlegenheit und Misstrauen ausdrückte, drückte den Hut schützend gegen das Päckchen an seiner Brust und eilte zur Strasse hinaus.
        Draussen war es inzwischen dunkel geworden. Willi strich durch die Strassen und spürte die kälter gewordene Luft in seinem ausrasierten Nacken.
Auf seinem Weg war er inzwischen in der Nähe des Bahnhofs angelangt, wo die meisten Restaurants der Stadt lagen. Er schlenderte durch die engen Gassen, summte eine monotone Melodie, und aus den umliegenden Gaststätten strömten ihm angenehme Gerüche in die Nase. Er war hungrig geworden.
        „Eine Bratwurst mit Zwiebelsauce und Rösti,“ sagte Willi zur Serviererin.        Er sass in der hintersten Ecke der Gaststube an einem kleinen Tisch. Vor sich am Tisch lag sein Hut und das in Goldfolie gewickelte Päckchen mit der roten Schleife. Die Gaststätte war gut besucht. Die Gespräche der Leute drangen als mulmiges Dröhnen in Willis Ohren.
        „Und zu trinken?“
        „Hmm?“
        „Was wollen Sie trinken?“, brüllte die Serviererin.
Willi überlegte einen Moment.
        „Einen Zweierli Roten,“ sagte er dann kurz entschlossen.
Schliesslich gab es heute etwas zu feiern, und da konnte ein bisschen Wein nicht schaden. Willi war stolz auf sich. Er lächelte vor sich hin, summte eine leise Melodie und betrachtete immer wieder mit strahlenden Augen das Päckchen, welches vor ihm auf dem Tisch lag.
        Aus einer schummrigen Kneipe in der Nähe des Hauptbahnhofs torkelte ein alter Mann. Er hatte einen Filzhut auf dem Kopf, einen schäbigen, alten Mantel übergezogen und war ziemlich angetrunken. Es war kurz nach Mitternacht. Die Strassen waren menschenleer, und durch die engen, dunklen Gassen blies ein kalter Wind. Der alte Mann sang ein merkwürdiges Lied. Es klang ungefähr wie:
„...und wenn sie furzt, ja wenn sie furzt, dann riecht es nach Faaaiiilcheen...“
Unsicheren Schrittes stolperte er die Strasse entlang. Als er die Strasse überqueren wollte, kam von hinten ein Taxi angebraust. Der Taxifahrer trat auf die Bremse, die Reifen quietschten, und der Wagen konnte dem alten Mann auf der Strasse gerade noch ausweichen. Der Taxifahrer drückte wütend auf die Hupe und fuhr davon. Den alten Mann kümmerte das nicht. Er setzte unbeirrt seinen Weg fort und sang dabei sein eigenartiges Lied.
        „He Opa, was hast du denn da Schönes?“
Der alte Mann sah sich plötzlich umringt von einer Schar herumstreunender Jugendlichen, welche aus einer dunklen Seitengasse aufgetaucht war. Er erschrak und versuchte das Päckchen, welches er in den Händen hielt, unter seinem Mantel zu verstecken.
        „Ist da ein Geschenk für uns drin?“, fragte einer, und die anderen lachten höhnisch.
        „Geht weg! Lasst mich in Ruhe!“, schrie Willi.
Jemand erfasste ihn von hinten, riss ihm die Arme auseinander, und ein zweiter griff ihm das Päckchen aus den Händen. Als Willi danach fassen wollte, stolperte er über den Fuss eines Dritten und fiel aufs nasse Pflaster. Er weinte.
„Ist ja ganz schön schwer, das Ding“, lachte der Junge mit dem Päckchen.
„Was da wohl drin sein mag?“
Er hob das Päckchen hoch und schüttelte es. Drinnen polterte etwas.
        „Gebt mir mein Päckchen wieder zurück!“, schluchzte Willi und erhob sich auf die Knie.
Die Jungen schauten runter zu diesem erbärmlichen, alten Mann, der vor ihnen wimmernd auf der dreckigen Strasse kniete und aus der Nase blutete.
        „Na, gib es ihm schon wieder zurück,“ sagte einer.
Der Junge warf das Päckchen in die Pfütze vor dem alten Mann, und die Bande verschwand lachend in den dunklen Gassen.
        Willi hob das Päckchen aus der Pfütze und stand langsam auf. Besorgt schaute er sich das Päckchen an. Die Goldfolie war zerknittert und an manchen Stellen etwas eingerissen und die rote Schleife drum herum war zerschlissen und ausgefranst. Mit seinen zitternden Fingern versuchte er, den Dreck vom Päckchen zu entfernen. Es half nicht viel.
Und dennoch war Willi froh, das Päckchen wieder wohlbehütet in seinen Händen zu halten und streichelte es liebevoll. Nun beeilte er sich, das Geschenk endlich abzugeben, und machte sich auf den Weg.
Vor einem alten Haus mit verschlissener, bröckelnder Fassade blieb er stehen und schloss die Türe auf. Er trat in den Flur, drückte auf den Lichtschalter, schloss die Tür hinter sich zu und stieg langsam die knarrende Holzstiege hoch.
Im ersten Stock blieb er vor einer Tür stehen. Von drinnen waren Stimmen zu hören. Willi lauschte und lächelte. Dann schloss er die Wohnungstür auf und trat ein.
Es war ein kleines, schäbiges Zimmer. Eine geblümte Tapete, deren Farbe längst ergraut war, hing in Fetzen von den Wänden. An der Decke hing eine schummrige 20-Watt-Glühbirne und beleuchtete das Zimmer in einem matten Licht. Ein Bett stand im Zimmer. Es war zerwühlt und die Bettlaken waren voller Flecken. Eine Kakerlake krabbelte über das Kopfkissen und kletterte die schäbige Tapete hoch. An einer Wand hing ein Spiegel, und ein Stuhl stand davor.
Die Stimme kam aus einem alten Schwarz-Weiss-Fernseher, der in einer Ecke stand und auf volle Lautstärke gedreht war. Der Fernsehmoderator verlas gerade die Nachrichten vom Tage:
„...Laut Polizeibericht erschoss der Tatverdächtige seine Frau und seinen Vorgesetzten, nachdem er die Beiden im Schlafzimmer seiner Wohnung überrascht hatte. Daraufhin entwendete der Tatverdächtige 5 Millionen Dollar von einem ihm anvertrauten Konto und hat sich damit, wie die Polizei annimmt, nach Südamerika abgesetzt. Der Angestellte der besagten Treuhandgesellschaft hinterlässt vier Kinder...“
„Hallo, ich bin wieder zuhause,“ flüsterte Willi.
Er setzte sich auf den Stuhl vor dem Spiegel und zwinkerte seinem Spiegelbild zu.
„Ich habe eine Überraschung für dich.“
Er legte das Päckchen auf das Sims vor den Spiegel. Dann lächelte er sich zu und flüsterte:
„Rat mal, was es ist!“
Er nimmt das Päckchen von Sims des Spiegels, reisst das rote Band und die goldene Folie runter und entnimmt daraus eine Pistole. Erst richtete er die Pistole gegen sein Spiegelbild, zögerte einen Moment und betrachtete stattdessen seinen aufgefischten Hut. Er lächelt zufrieden und richtet dann die Pistole gegen seine Schläfe.
Als Kräuter wieder auftauchte, sass er in einem grossen Raum auf einem treppenartigen Podest, zusammen mit vielen anderen Männern. Der Raum war grell erleuchtet. Kräuter sass in der vordersten Reihe. Verwundert sah er sich um.
Die Männer um ihn herum waren alle nackt, abgesehen von einem Tanga-Höschen, einem Strumpfgürtel, schwarzen Netzstrümpfen und einer Plakette, die ihnen um den Hals hing. Leicht irritiert stellte Kräuter seinen Aktenkoffer mit dem Geld zwischen seinen Füssen ab und stellte fest, dass auch er schwarze Netzstrümpfe, Strumpfhalter und ein Tanga-Höschen trug, und dass auch ihm eine Plakette um den Hals hing. Er nahm die Plakette in die Hand und betrachtete sie. Es stand eine Zahl drauf. Es war die 23.
Etwas verlegen liess er die Plakette wieder baumeln, klopfte nervös mit den Fingern auf dem Einmachglas herum und blickte sich um.
Die Männer sahen alle ziemlich verängstigt aus, wie sie in ihrer lächerlichen Aufmachung und der Plakette um den Hals auf dem Podest sassen. Manche von ihnen unterhielten sich leise, doch die meisten starrten nur lethargisch nach vorne.
Irgendwie schien ihm diese merkwürdige Szenerie seltsam vertraut zu sein, so als hätte er das schon mal irgendwo gesehen, so ähnlich wie ein Déjà-vu kam es ihm vor. Dann blickte er nach vorne und wäre beinahe zu Tode erschrocken.
Der vordere Teil des Raumes war von einer grossen Glasscheibe verschlossen. Hinter der Glasscheibe befand sich ein in gedämpftes Licht gehüllter Raum. Und das, was Kräuter hinter der Glasscheibe in diesem Raum sah, das konnte er einfach nicht fassen. Furchterregende Monster gafften ihn durch die Scheibe an und machten vulgäre, anzügliche Gesten. Es war grauenvoll.
Entsetzt wendete Kräuter seinen Blick ab und schaute stattdessen ins Gesicht seines Nachbarn zur linken Seite.
„Wird ein Mordsspass, was?“, grinste ihn sein Nachbar an.
„Wo bin ich hier? Wer sind Sie?“
„Tamal Mossiani ist mein Name. Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.“
        „Tamal Mossiani? Ich,...ich habe ihren Namen schon mal gehört.“
        „Kann durchaus sein. Ich komme viel rum.“
Plötzlich ertönte ein lautes, unangenehmes Surren, und auf einer Anzeigetafel über dem grossen Glasfenster leuchtete eine Zahl auf. Es war die 11. Gleich darauf ertönte aus einem Lautsprecher eine sympathische, weibliche Stimme.
„Nummer elf wird gebeten, sich zum Ausgang B7 zu begeben. Nummer elf bitte.“
„Tut mir leid, mein Freund, aber die Pflicht ruft.“
Tamal Mossiani erhob sich von seinem Platz und zwirbelte keck an seinem Schnurrbart. Sein Gesichtsausdruck war fest und entschlossen.
        „Wird auch langsam Zeit“, sagte er und schritt auf seinen dürren X-Beinen zu einer automatischen Schiebetür. Die Tür war gekennzeichnet mit der Aufschrift „Universum B7“. Die Tür öffnete sich.
        „Nun wollen wir mal sehen, was die Ladies so alles draufhaben!“
Er liess seinen Bizeps etwas spielen und verschwand hinter der Tür. Die Tür schloss sich hinter ihm.
        Kräuter versuchte sich zu erinnern, woher er den Namen Tamal Mossiani kannte und blickte noch eine Weile zur Tür, hinter welcher er verschwunden war. Es war eine von unzähligen Türen rings um das Podest, auf dem die Männer sassen. Jede einzelne Tür war angeschrieben mit Universum A1, Universum A2, Universum A3 und so weiter.
Plötzlich ertönte erneut dieses laute Surren, und Kräuter schreckte zusammen. Diesmal erschien die Zahl 23 auf der Anzeigetafel. Und wieder erklang aus dem Lautsprecher diese angenehme, weibliche Stimme.
Nummer 23 wird gebeten, sich zum Ausgang G13 zu begeben. Nummer 23 bitte.“
        Verwirrt griff Kräuter erneut zu seiner Plakette und schaute auf die Zahl, die draufstand. Es war immer noch die 23. Er sah sich um und bemerkte, dass ihn die anderen Männer etwas mitleidig ansahen.
Wieder ertönte die weiche, angenehme Stimme aus dem Lautsprecher.
        „Nummer 23 wird gebeten, sich zum Ausgang G13 zu begeben. Nummer 23 bitte.“
        Kräuter wurde immer nervöser. Panik ergriff ihn.
        „Ich geh da nicht raus! Ich geh da nicht raus!“, stammelte er und klammerte sich an sein Einmachglas.
Hinter der Glasscheibe glotzten ihn riesige, furchterregende Monster an, die aussahen wie Kräuters Grossmutter, die seit 30 Jahren tot war. Sie waren um die drei Meter hoch und mussten somit an die fünf Zentner wiegen. Manche von ihnen trugen ein Miniröckchen, unter welchem man die Krampfadern pulsieren sah. Ihre eingefallenen, faltigen Gesichter waren stark geschminkt, und einige von ihnen trugen ein kleines Handtäschchen. Sie glotzten Kräuter an und grinsten lüstern. Zwei von ihnen pressten ihre geifernden Gesichter auf die Scheibe, starrten ihn an, und der Rotz floss ihnen aus den Mäulern und zog lange Schleimspuren die Scheibe hinunter.
        „Letzter Aufruf für Nummer 23. Nummer 23 wird gebeten, sich zum Ausgang G13 zu begeben. Nummer 23 bitte.“
        „Aber ich gehöre doch gar nicht hierher!“, schrie Kräuter. Er war völlig verzweifelt.
        Eine automatische Schiebetür öffnete sich, und zwei riesige tönerne Golems schritten auf Kräuter zu.
Kräuter öffnete hastig das Einmachglas, das er in den Händen hielt, und zog immer wieder heftig mit der Nase die Luft an dessen Öffnung in seine Lungen.
Doch nichts geschah. Das Glas war leer.
„Sikorsky, Sie verdammter Kerl, holen Sie mich da raus!“ schrie er verzweifelt.
        Als ihn die Golems an den Armen fassten, liess er das Einmachglas fallen und griff nach seinem Aktenkoffer. Er hielt den Golems den Koffer entgegen.
        „Nehmt das, nehmt das! Das gehört euch. Da ist viel Geld drin. Aber lasst mich in Ruhe! Fasst mich nicht an!“, schrie er.
Einer der Eunuchen schlug ihm den Aktenkoffer aus der Hand. Im weiten Bogen flog der Koffer gegen die Wand und zerschellte. Hunderte von Glasperlen platzten aus dem Koffer heraus und prasselten auf den Boden. Es waren grüne, gelbe und rote.
Die Golems packten Kräuter an den Armen. Er versuchte sich zu wehren, und dabei fiel ihm der Papierhut vom Kopf. Kräuter zappelte und schrie wie am Spiess. Doch die Golems zerrten ihn aus dem Saal, und die automatische Schiebetür hinter ihnen ging wieder zu. Auf der Tür stand die Aufschrift G13.
Kräuter wurde unsanft in einen Raum gestossen, und die Tür hinter ihm schob sich wieder zu. Auf einem verdreckten Linoleum-Boden blieb er liegen. Er hörte Musik. Ängstlich blickte er sich um. Er stellte fest, dass er allein war. Die Musik kam aus einem alten Schwarz-Weiss-Fernseher, der in einer Ecke stand und auf volle Lautstärke gedreht war. Der Fernseher übertrug eine Musiksendung. Ein Schimpanse sass hinter einem Bösendorfer Imperial-Flügel und griff gefühlvoll in die Tasten. Davor stand ein kleiner Junge mit ausgeschnittenem Hosenboden und furzte eine Melodie ins Mikrofon. Die beiden spielten Sinatras „Strangers In The Night“.
Kräuter lag am Boden eines schäbigen, kleinen Zimmers. Eine geblümte Tapete, deren Farbe längst ergraut war, hing in Fetzen von den Wänden, und an der Decke hing eine schummrige 20-Watt-Glühbirne und beleuchtete das Zimmer in einem matten Licht. Ein Bett stand im Zimmer, und an der Wand hing ein Spiegel mit einem Stuhl davor.
Kräuter erhob sich langsam vom Boden. Seine Knie zitterten. Er schaute sich um. Das Bett war zerwühlt, und die Bettlaken waren voller Flecken. Eine Kakerlake huschte über das Kopfkissen und krabbelte die geblümte Tapete hoch.
Kräuter setzte er sich erschöpft auf den Stuhl vor dem Spiegel. Er sah sein verzweifeltes, schwitzendes Gesicht, das sich matt darin spiegelte. Er atmete schwer. Dann bemerkte er ein kleines Päckchen, das unter dem Spiegel auf dem Sims lag. Es war verpackt in eine goldene Folie, und um das Päckchen herum war ein rotes Band zu einer Schleife gebunden.
Kräuter hob zögernd das Päckchen hoch. Es fühlte sich ziemlich schwer an. Er hob es an sein Ohr und schüttelte es. Drinnen polterte etwas. Nun besah er sich das Päckchen von allen Seiten. Die Goldfolie war zerknittert und an manchen Stellen etwas eingerissen, die rote Schleife drum herum war zerschlissen und ausgefranst, und das ganze Päckchen war ziemlich dreckig, so als ob es von einer schmutzigen Strasse aufgelesen worden wäre.
Und trotzdem machte es auf Kräuter einen reinen und edlen Eindruck, und er glaubte zu fühlen, dass von diesem Päckchen irgendetwas Tröstliches ausging, was ihn etwas zuversichtlicher stimmte in seiner misslichen Situation. Er machte sich daran, das Päckchen behutsam zu öffnen.
Vorsichtig versuchte er das rote Band von der goldenen Folie zu lösen. Plötzlich konnte er sich nicht mehr beherrschen und riss das Band mitsamt der Folie hektisch von Päckchen und öffnete es. Drinnen lag ein Revolver.
Im Spiegel vor ihm tauchte die Fratze einer dieser Bestien auf, die er draussen vor der Glasscheibe gesehen hatte. Das Monster starrte ihn an. Es grinste und neigte dabei langsam seinen grässlichen Schädel zur Seite.
Kräuter blickte in die fürchterliche Fratze, die ihn aus dem Spiegel anstarrte. Er zog den Revolver aus der Schachtel und feuerte fünfmal in den Spiegel. Die Schüsse dröhnten durch den Raum, und der Spiegel zerbarst in tausend Splitter. Das Zimmer wurde in Pulverrauch gehüllt.
Als der Rauch abzog, stand Kräuter in seinem Schlafzimmer. Vor ihm am Boden lag die nackte, blutüberströmte Leiche seiner Frau Martha. Daneben lag der leblose Körper von Erwin Rempf, ebenfalls nackt und blutüberströmt.
Kräuter fing an zu wimmern. Er zitterte am ganzen Körper. Er setzte sich aufs Bett und weinte. Er war am Ende seiner Kräfte. In seiner Rechten war immer noch der Revolver. Er hob ihn hoch und führte die Mündung zitternd an seinen Mund. Er wollte es schnell hinter sich bringen. Doch der Lauf des Revolvers war immer noch heiss von den zuvor abgegebenen Schüssen, und als ihn Kräuter in den Mund nahm, verbrannte er sich die Lippen. Er schrie auf, und der Revolver fiel ihm aus der Hand.
Kräuter sass auf dem Bett seines Schlafzimmers, heulte und bemerkte nicht, wie sich die Tür öffnete und Sikorsky ins Zimmer trat. Sikorsky hatte Kräuters Aktenkoffer in der Hand. Er setzte sich neben Kräuter aufs Bett und legte ihm seinen Aktenkoffer auf die Knie.
„Dies werden sie noch brauchen, dort, wo sie hingehen.“
Kräuter schluchzte und blickte auf den Aktenkoffer.
„Wo gehe ich denn hin?“, schluchzte er.
„Südamerika.“
Kräuter seufzte. Seine verbrannten Lippen schmerzten. Er öffnete den Aktenkoffer. In einem Haufen voll farbiger Glasperlen lag dort seine Brieftasche. Er zog sie heraus. Aus der Brieftasche zog er ein Foto und reichte es Sikorsky.
        „Mein Sohn Lukas, elf Jahre alt.“
Sikorsky nahm das Foto in den Mund und fing an, daran herumzukauen.
        Kräuter zog ein weiteres Foto aus der Brieftasche.
        „Das ist Mark, mein Ältester. Er studiert Sozialökonomie.“
Sikorsky zerknüllte das Foto und schob es sich zwischen die Zähne.
        „Meine Tochter Andrea. Im April wird sie dreizehn.“
Auch dieses Foto nahm Sikorsky in den Mund und ass es auf.
        „Das ist unsere Jüngste. Ihr Name ist Ursula. Ist sie nicht reizend?“
„Isn’t she lovely, isn’t she wonderful...“
Stevie Wonders Lied ertönte aus dem Radio.
        Sikorsky nahm das Foto in die Hand und betrachtete es.
        „Ja, ganz reizend.“
Er drehte sich um zu Kräuter und biss ihm das linke Ohr ab.
Kapitel 7
Der Code
                                                                                      „Chasch nöd dä Füüfer und s Weggli haa, oder!?“
                                                                                      (Schweizer Redensart)
                                                                 
25 Jahre ist es nun her, dass er so plötzlich verschwunden war. Damals war Edith gerade eben 33. Er war in seinem besten Alter, ging so auf die 45 zu. Heute wäre er somit um die 70 Jahre alt, was ihr aber überhaupt nicht bewusst war. In ihrem Bewusstsein war er immer noch derselbe süsse Knuddelbär, wie er sie vor 25 Jahren verlassen hatte; dieser sympathische, leicht korpulente, kleinwüchsige Mann mittleren Alters mit dunklem, schütteren Haar, das er sich an der linken Schläfe lang wachsen liess und quer über den breiten Schädel kämmte, um die Glatze zu verbergen, mit den lustigen kleinen Äuglein unter der hohen Stirn, die sie so gerne küsste, und der hohen, etwas weinerlichen Stimme, der sie so gerne lauschte. Man musste ihn einfach gernhaben.
Sie hatte kein einziges Foto von ihm. Das einzige Bild, das sie von ihm besass, stammt aus jener Zeitung, die damals vor 25 Jahren von seinem Verschwinden berichtete. Sie hatte es ausgeschnitten und in einen Bilderrahmen gesteckt. Es schmückte seit damals ihren Nachttisch, und oft nahm sie es hoch und betrachtete es. Manchmal, wenn sie sich schlechter fühlte als sonst, setzte sie sich aufs Bett und nahm das Bild vom Nachttisch. Sie legte es sich auf den Schoss, streichelte es, und manchmal redete sie zu ihm. Und manchmal erleichterte das ihren Schmerz.
Inzwischen ist das Zeitungspapier unter dem Bilderrahmen längst vergilbt und sein Bild verblasst.
Was sie am meisten vermisste, war sein helles, vergnügtes Lachen. Er lachte so gerne, und sein Lachen war ansteckend. Er war immerzu gut aufgelegt, und sie konnte sich nicht daran erinnern, dass er ein einziges Mal schlechte Laune gehabt oder sie gar angeschrien hätte. Sie hatten sich kein einziges Mal gestritten, und vielleicht war das der Grund, warum sie ihm bis heute treu geblieben war.
Mit seinem wunderbar natürlichen Charme verstand er es vorzüglich, überall Fröhlichkeit und gute Laune zu verbreiten. Er konnte so gut mit anderen Menschen umgehen, und das bewunderte sie am meisten an ihm, denn sie konnte das überhaupt nicht. Zwar hatte sie ihn nie in Gesellschaft anderer Leute erlebt. Wenn sie sich trafen, dann waren sie immer nur zu zweit. Doch er war der wahre Meister der Smalltalks. Sein fröhliches und extrovertiertes Wesen vermochte es vorzüglich, seine Umgebung zu unterhalten. Der Gesprächsstoff schien ihm niemals auszugehen, und man fühlte sich einfach wohl und geborgen in seiner Gesellschaft und genoss die belanglosen Gespräche mit ihm, in denen er immer wieder einen seiner köstlichen kleinen Scherze einstreute.
Damals hatte er ihr dieses Häuschen in diesem kleinen, beschaulichen Vorort besorgt. Zunächst hatte sie gezögert, auf seinen Vorschlag einzugehen. Er kam ihr so unangemessen grosszügig vor, denn sehr viel verlangte er nicht als Gegenleistung; nur diesen einen Tag in der Woche, und den gab sie ihm mit Freuden.
Und im Grunde genommen hatte sie auch keine wirkliche Alternative zu seinem Vorschlag. Nachdem sie ihren Mann verlassen hatte, den sie jung geheiratet hatte, doch dem Semmelstoppelpilze wichtiger zu sein schienen als sie selbst, widmete sie sich dem ältesten Gewerbe der Welt. In ihrer Jugend als ausgesprochene Dorfschönheit, wo sie jedem Jungen den Kopf zu verdrehen vermochte, schien es ihr nicht wichtig, irgendeinen Schulabschluss zu absolvieren oder einen Beruf zu erlernen. So kam ihr, etliche Jahre nach ihrer Karriere als Edelprostituierte und Hostess für wohlhabende Geschäftsleute auf Durchreise, ein Sugardaddy namens Willi Kräuter ganz recht. Doch eines Tages war er einfach verschwunden.
Vor 30 Jahren zog sie in diese kleine, etwas heruntergekommene Vorstadtsiedlung, die vorwiegend von ausländischen Arbeiterfamilien bewohnt wurde, und wo die meisten Leute arbeitslos waren, seitdem das nahegelegene Chemiewerk geschlossen wurde. Sie bezog das Häuschen an der Hauptstrasse, welches ihr Willi besorgt hatte, und richtete es liebevoll ein. Willi vorsorgte sie mit einem monatlichen, recht grosszügigen Check, so dass sie ihre frühere Tätigkeit aufgeben konnte.
Donnerstag war ihr gemeinsamer Tag. Das konnte er sich so in seiner Treuhandfirma einrichten. Seiner Frau sagte er, er sei jeweils Donnerstag abends beim Treffen der Anonymen Alkoholiker, und scheinbar machte das grossen Eindruck auf seine Frau, und sie freute sich und war stolz, dass ihr Mann diesen grossen Schritt gewagt hatte. Nie wäre es ihr in den Sinn gekommen, dass da irgendetwas nicht stimmen könnte, nie hätte sie ihrem Mann nachgestellt oder irgendwelche Nachforschungen machen lassen. Dazu war er einfach viel zu vertrauenswürdig und viel zu schlau.
Donnerstag war das Zentrum ihrer Woche, und alles drehte sich um diesen grossen Tag.
Montag war der Tag, an dem sie die Wohnung aufräumte und die Wäsche machte. Sie wischte überall den Staub, wechselte die Bettlaken und Handtücher, saugte die ganze Wohnung gründlich, schrubbte das Klo und das Bad, und einmal im Monat reinigte sie alle Fenster.
Dienstags tätigte sie die Einkäufe für die Woche. Gleich zwei Strassen weiter unten war ein grosser Supermarkt, wo sie alles vorfand, was sie brauchte. Die Einkäufe konnte sie ganz gut zu Fuss erledigen. Sie hatte kein Auto; dazu reichten die monatlichen Checks nun doch nicht aus. Doch die zwei Strassen schaffte sie ganz gut zu Fuss, auch mit den vielen Einkaufstaschen unter den Armen.
Mittwochs kochte sie den ganzen Tag und backte Kuchen und Kekse, alles in Vorbereitung auf den folgenden Höhepunkt der Woche. Und am Abend machte sie sich die Haare, lackierte sich die Nägel und rasierte sich die Beine.
Donnerstag morgens, pünktlich um neun, parkte er seinen Wagen auf dem Parkplatz des Supermarkts und kam die zwei Strassen zu Fuss herüber. Vor dem Haus blieb er stehen und schaute sich um, ob ihn jemand beobachtete. Er schlich durch den Garten zur Rückseite des Hauses. Er benutzte den Hintereingang zu ihrer Wohnung, denn obwohl er hier im Quartier keine Bekannten hatte, war er sehr vorsichtig und wollte nicht gesehen werden. Doch wer sollte ihn schon beobachten in dieser ruhigen Vorstadtsiedlung, wo kaum ein Mensch den andern kannte.
Sie wartete gleich hinter der Tür. Sie hatte sich für ihn zurechtgemacht, trug das enganliegende, rote Kleid, das ihm so gut gefiel, schwarze Netzstrümpfe und die roten High Heels, die er ihr von einer Geschäftsreise aus Italien mitgebracht hatte.
Oft brachte er ihr ein kleines Geschenk mit, zumeist zarte Dessous in einer hübschen Verpackung, manchmal auch ein Flakon französischen Parfums oder eine Schachtel Pralinen.
Er begrüsste sie mit einem vorsichtigen Kuss auf die Wange. Dann zog er sich hastig all seine Kleider vom Leibe. Gleich hinter der Tür stand ein Kleiderschrank, der für ihn reserviert war. Er legte seine Kleider und Schuhe in den Schrank. So konnte er sicher sein, dass daran keine verdächtigen Haare, fremden Gerüche oder sonst was haften blieb, was seine Frau hätte misstrauisch machen können.
Aus dem Schrank entnahm er einen Kimono, wickelte seinen schwitzenden Körper darin ein, und streifte sich Pantoffeln über seine Füsse. Er machte den Schrank zu, und nun nahm er sie endlich in die Arme.
Die zwei Strasse zu Fuss brachten ihn jedes Mal zum Schwitzen, denn sein korpulenter Körper vertrug keine grosse Anstrengung. Während er sich duschte, bereitete sie ein kleines, bezauberndes Frühstück mit Kaffee, Croissants und einer Flasche eisgekühltem Sekt. Dann sassen sie beieinander und frühstückten.
Seine schütteren Haare hatte er nach dem Duschen quer über die Glatze gekämmt, um etwas jugendlicher auszusehen. Den Bademantel hatte er sich übergeworfen, ohne ihn vorne zuzubinden.
Er hatte einen gesunden Appetit, und während er sich Butter und Marmelade aufs Croissant strich, erzählte er ihr, was bei ihm im Büro und Zuhause die Woche hindurch vorgefallen war. Sie mochte es, ihm zuzuhören und kicherte artig bei den kleinen Scherzen, die er in seine Ausführungen über seine Frau, seine Kinder und seine Arbeitskollegen einstreute. Sie selbst hatte allerdings nie viel zu erzählen. Abgesehen von ihrem samstäglichen Bummel durch die Stadt und dem Besuch bei ihrer Mutter im Pflegeheim am Sonntag erlebte sie nicht viel, worüber es sich zu erzählen gelohnt hätte. Doch das erwartete er auch nicht.
Er stellte auch nie irgendwelche Fragen in der Art von ‚Wie geht es deiner Mutter?’ oder ‚Was gab’s im Kino letzten Samstag?’. Auch das war ihr ganz recht. Sie war nicht sehr gesprächig.
Nach dem Frühstück liebten sie sich für Gewöhnlich auf dem Sofa. Gewöhnlich schlief er danach ein, und sie konnte das Frühstücksbüffet abräumen und das Mittagessen vorbereiten.
Zum Mittagessen zog sie die Vorhänge über die Fenster und zündete einige Kerzen an. Über die weisse Tischdecke streute sie einige Blüten, die sie im Vorgarten gepflückt hatte. Sie überraschte ihn jede Woche mit einer neuen Spezialität. Das Rezept entnahm sie jeweils der Wochenbeilage der Tageszeitung, die sie abonniert hatte. Er ass mit gesundem Appetit und war jedes Mal voll des Lobes über ihre Kochkünste. Kein Vergleich zu seiner Frau, wie er ständig betonte. Dann schilderte er ihr, was sich dieses alte Luder angemessen hatte, ihm letzthin aufzutischen, und sie kicherte artig.
Nach dem Mittagessen gab’s zum Kaffee ein Stück vom Kuchen, den sie am Tag zuvor gebacken hatte. Sie sassen gemeinsam auf dem Sofa im Wohnzimmer, tranken Kaffee, assen Kuchen oder Kekse, und er erzählte ihr weiter, was sich bei ihm zuhause und im Büro letzte Woche zugetragen hatte. Bei den Scherzen, die er in seine Ausführungen über seine Frau, seine Kinder und seine Arbeitskollegen einstreute, kicherte sie artig.
Dann gingen sie für Gewöhnlich nach oben ins Schlafzimmer und liebten sich. Danach schlief er meistens ein, und sie ging runter, um den Mittagstisch abzuräumen und das Abendessen vorzubereiten.
Nach dem Abendessen, das zumeist aus einer Käse- und Schinkenplatte mit Salat und Gemüse bestand, sassen sie beim Tee im Wohnzimmer, und er erzählte ihr weitere Anekdoten aus seinem Ehe- und Berufsleben. Sie lauschte dabei lächelnd seiner Stimme und kicherte hin und wieder, wenn er einen kleinen Scherz einstreute. Manchmal, wenn er gerade gut in Form war, liebten sie sich danach auf dem Wohnzimmerteppich.
So gegen neun Uhr abends ging sie nach oben ins Badezimmer und liess ihm ein heisses Bad ein. Bald kam er ihr nach, streifte seinen Kimono ab und glitt in die Wanne. Sie seifte ihn ein, schrubbte ihm den Rücken, wusch ihm die schütteren Haare, wobei sie dasselbe Shampoo und dieselbe Sorte Seife verwendete, die auch er zuhause benutzte, und er erzählte ihr dabei weitere Details der vergangenen Woche, wobei sie manchmal leise kicherte, wenn er einen seiner lustigen kleinen Scherze einstreute.
Dann stieg er aus der Wanne, wickelte sich in ein frisches Handtuch und ging runter zum Hintereingang der Wohnung. Aus dem Kleiderschrank entnahm er seine Sachen, die er am Morgen dort verstaut hatte. Er zog sich hastig an, gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und machte sich auf den Weg die zwei Strassen runter zum Supermarkt, wo sein Wagen geparkt war.
Den darauffolgenden Tag, es war Freitag, spülte sie das Geschirr vom Vortag und wusch seinen Kimono und die Badetücher, die er gebraucht hatte. Dazu verwendete sie das Waschmittel, das er ihr empfohlen hatte, weil seine Frau dasselbe Mittel benutzte und er so nicht durch fremdartige Gerüche bei ihr in Verdacht geriet. Seine Sachen hängte sie dann wieder in den Schrank beim Hinterausgang.
Samstags fuhr sie mit der S-Bahn in die City und machte einen kleinen Bummel durch die Innenstadt. Sie besah sich die Schaufenster der Mode-Boutiquen an der Bahnhofstrasse, kaufte manchmal eine Winzigkeit, wenn die Sonne schien, dann setzte sie sich an den Tisch eines Strassencafés und trank eine Kleinigkeit, und wenn es regnete, ging ins Kino.
Und sonntags besuchte sie ihre Mutter im Pflegeheim.
So vergingen die Jahre, und sie war eigentlich ganz zufrieden. Sie hatte sich nie allzu viel von Ihrem Leben erhofft. Ihre Erwartungen waren sehr bescheiden. Ihren Vater hatte sie nie kennen gelernt und ihre Mutter sprach auch nie von ihm, aus dem einfachen Grund, weil auch sie nicht genau wusste, wer es wirklich war. Zyniker würden es wohl als Arbeitsunfall betrachten.
Nach einem Schlaganfall musste ihre Mutter im Pflegeheim untergebracht werden, und der Unterhalt kostete jeden Monat eine beträchtliche Summe.
Als Edith noch erwerbstätig war, kam Willi regelmässig als Kunde zu ihr. Als er ihr dann dieses Angebot mit dem Häuschen unterbreitete, hatte sie nicht lange gezögert und zugestimmt. Denn sie wurde älter, was in ihrem Gewerbe nicht zuträglich war. Nie hatte sie erwartet, dass er ihretwegen seine Frau und seine Familie verlassen würde. Davon war in ihrer Abmachung nie die Rede, von Heirat schon gar nicht. Das hatte er ihr auch nie vorgegaukelt. Er war immer ehrlich zu ihr gewesen, und das wusste sie zu schätzen. Ihre Beziehung war sehr pragmatisch. Sie beschränkte sich auf diesen einen Tag der Woche, und deshalb gab es wohl auch nie Streitereien zwischen ihnen.
Doch eines Donnerstags kam er nicht.
Wie gewöhnlich wartete sie an der Tür des Hintereingangs, und als es bereits nach zehn war und er immer noch nicht auftauchte, machte sie sich langsam Sorgen. So gegen elf zog sie sich den Mantel über, ging runter zum Supermarkt und suchte den Parkplatz nach seinem Wagen ab. Sie konnte ihn nirgends entdecken. Ihr kam der Gedanke, dass er womöglich erkrankt sein mochte und zuhause im Bett lag.
Sie wusste, dass sie ihn dort nicht anrufen durfte. Doch als es bereits nach drei Uhr nachmittags war, ging sie rüber zur Telefonzelle am Ende der Strasse und wählte die Nummer. Am anderen Ende der Leitung meldete sich eine Stimme.
„Hallo?“
Es war seine Frau. Sie kannte ihre Stimme von der einen Begegnung, als sie ihn mit seiner Frau und den vier Kindern an einem Samstag in der Stadt vor dem Kino getroffen hatte. Sie standen direkt hinter ihr in der Reihe vor der Kinokasse, und sie hörte, wie sie sich unterhielten. Natürlich gab sie sich nicht zu erkennen, und noch ehe sie zur Kinokasse vordringen konnte, entschloss sie sich, doch lieber einen anderen Film anzuschauen.
„Hallo, wer ist denn da?“ Die Stimme klang besorgt.
„Willi, bist du es? So sag doch etwas!“
Sie hängte den Hörer ein. Nun wusste sie, dass er nicht zuhause war und dass irgendetwas passiert war.
Am nächsten Tag gab es für sie nicht viel zu tun. Es gab kein Geschirr zu spülen, sein Kimono und die Handtücher lagen unbenutzt im Schrank, und es gab nichts zu waschen. Das Essen und der Kuchen, den sie tags zuvor zubereitet hatte, standen unberührt in ihre Küche.
Sie hatte kaum geschlafen aus Sorge um ihn. Noch nie war es in diesen fünf Jahren, seit sie ihre Vereinbarung getroffen hatten, vorgefallen, dass er ihren gemeinsamen Donnerstag versäumt hätte. Natürlich ist hin und wieder die eine oder andere Woche vergangen, ohne dass sie sich getroffen hatten; wenn er auf Geschäftsreise war, oder mit seiner Familie im Urlaub. Doch dann sagte er ihr das gewöhnlich einige Tage im Voraus, und sie konnte sich darauf einstellen. Aber so einfach und ohne Grund weggeblieben war er bisher noch nie. Krank war er offensichtlich auch nicht, denn würde er zuhause im Bett liegen, hätte seine Frau am Telefon wohl kaum nach ihm gefragt. Sie konnte es sich nicht erklären.
Sie machte sich einen Kaffee und holte die Zeitung aus dem Briefkasten. Dann drehte sie das Radio auf, goss sich den Kaffee in die Tasse und setzte sich an den Tisch. Seichte Musik plätscherte aus dem Radio.
Während sie am Küchentisch sass, am Kaffee nippte und in der Zeitung blätterte, dachte sie daran, bei ihm im Büro anzurufen. Das wäre allerdings gegen ihre Abmachung. Doch hatte sie nicht gestern auch bei ihm zuhause angerufen?
Plötzlich liess sie die Kaffeetasse fallen.
Sie sah sein Bild in der Zeitung.
Sie erkannte ihn sofort, sein strahlendes Mondgesicht mit den kleinen, nah beieinanderstehenden Augen unter der hohen Stirn, über die einige Haarsträhnen von der Seite her gekämmt waren, um die Glatze zu verbergen, sein breites, charmantes Lächeln, das sie an ihm so mochte, das aber auf dem Foto in der Zeitung irgendwie seltsam aussah.
Sie las die Überschrift.
TREUHÄNDER BEGEHT DOPPELMORD
Sie konnte es nicht fassen. Wie in Trance las sie den Artikel immer wieder durch und konnte einfach nicht begreifen, was da geschrieben stand. Sie schrieben, er hätte seine Frau und seinen Chef erschossen, aus seiner Firma Geld geraubt, und sei danach einfach verschwunden.
Nein, das passte so gar nicht zu ihm, sagte sie sich immer wieder, das kann doch überhaupt nicht möglich sein. Ihr hätte er doch bestimmt irgendetwas gesagt, wenn er so was vorhätte. Er erzählte ihr doch sonst immer alles. Und wenn er es ihr nicht gesagt hätte, dann hätte sie doch bestimmt bemerkt, dass er sich in letzter Zeit irgendwie anders verhalten hätte. Doch das war nicht so. Er war in den letzten Wochen genau derselbe, wie all die Jahre zuvor, genauso charmant, liebenswürdig und gesellig.
Sie war völlig verzweifelt und las den Artikel nochmals durch. Das musste ein Irrtum sein.
Dann hörte sie den Nachrichtensprecher des Lokalsenders im Radio:
„...Laut Polizeibericht erschoss der Tatverdächtige seine Frau und seinen Vorgesetzten, nachdem er die Beiden im Schlafzimmer seiner Wohnung überrascht hatte. Daraufhin entwendete der Tatverdächtige, Angestellter des Treuhandbüros Rempf und Söhne, 5 Millionen Dollar von einem ihm anvertrauten Konto und hat sich damit, wie die Polizei annimmt, nach Südamerika abgesetzt. Der Angestellte der besagten Treuhandgesellschaft hinterlässt vier Kinder. Nach Angaben seiner Arbeitskollegen zeigte der Mann vor der Tat ein auffälliges Verhalten, welches auf eine psychische Störung schliessen lässt. Die Polizei bittet die Bevölkerung um Mithilfe. Willi Kräuter ist 45 Jahre alt, eins fünfundsechzig gross, korpulent, hat eine Stirnglatze und schütteres dunkles Haar. Von seinen Arbeitskollegen wird er als sehr gesellig bezeichnet. Angaben über seinen Verbleib nimmt jede Polizeidienststelle entgegen.“
Plötzlich kam ihr ein ungeheurer Gedanke. Er hatte das alles für sie getan, schoss es ihr durch den Kopf. Nur für sie allein. In der Zeitung stand geschrieben, er sei mit dem Geld, aber ohne seine Kinder verschwunden. Dasselbe sagte auch der Nachrichtensprecher im Radio. Das müsste doch bedeuten, dass er sich mit ihr früher oder später in Verbindung setzten würde und sie zu sich holen würde, wo immer er auch sein mochte. Südamerika? Fuck!
Dieser Gedanke machte sie plötzlich ganz munter. Mit so einem Abenteuer hatte sie in ihrem Leben nie gerechnet, und eigentlich hätte sie ihm so etwas auch nie zugetraut. Dieser kleine, gerissene Schlingel.
Sie hob die Zeitung hoch und schaute sich nochmals sein Foto an. Und diesmal schien sein Lächeln schon viel freundlicher. Sie lächelte ihn an, und in ihren Gedanken spazierten sie Arm in Arm über die Copacabana, und hinter dem Zuckerhut ging die Sonne auf.
„The Girl From Ipanema“ plätscherte aus dem Radio.
Nun war sie ganz aufgeregt und wusste nicht recht, was sie tun sollte. Sie ging nach oben ihre Koffer packen.
Doch es kam keine Nachricht von ihm.
Sie las jetzt jeden Tag gründlich die Zeitung. In der Montagsausgabe erschien noch ein Artikel. Sie schrieben, dass der Verbleib des Mannes, der den zweifachen Mord begangen und die Millionen geraubt hatte, noch immer ungeklärt sei. Diesmal war kein Foto von ihm dabei, und der Artikel war ganz hinten im Lokalteil. Dann kam tagelang nichts mehr in der Zeitung, und auch im Radio wurde nichts mehr von ihm erwähnt.
Drei Wochen später packte sie ihre Koffer wieder aus.
Manchmal fragte sie sich, ob es nicht besser gewesen wäre, zur Polizei zu gehen. Doch was würde das bringen? Und was sollte sie überhaupt der Polizei erzählen? Viel mehr als die Polizei wusste sie auch nicht, und ausser einem Kimono, einigen Handtüchern und den Pantoffeln hatte sie nichts, was auf ihn schliessen würde. Nun ja, da waren die monatlichen Checks, die sie von ihm erhielt. Seit seinem Verschwinden sind jedoch auch diese Zahlungen ausgebliegen. Aber schliesslich hatte sie die Hoffnung noch längst nicht aufgegeben, dass er sich eines Tages mit ihr in Verbindung setzen und sie zu sich holen würde. Wahrscheinlich war er nur vorsichtig. Vielleicht vermutete er, dass man sie beobachtete und dass ihre Post von der Polizei gelesen wurde, und deshalb liess er sich so viel Zeit damit. Dieser gerissene, kleine Schlingel.
Sie bekam Probleme, ihren Lebensunterhalt zu finanzieren und die Kosten für die Pflege ihrer Mutter zu begleichen. Sie musste das Häuschen verkaufen und in eine 2-Zimmer-Wohnung gleich um die Ecke ziehen. Mit dem Erlös für das Haus konnte sie sich noch einige Jahre über Wasser halten.
Kurze Zeit später ist ihre Mutter gestorben, und so entfiel wenigstens die finanzielle Belastung ihrer Pflege. Irgendwann aber war das ganze Geld aufgebraucht, und sie musste für ihren Lebensunterhalt selbst aufkommen.
Inzwischen war sie zu alt geworden, um ihre frühere Arbeit wieder aufzunehmen. Sie fand Arbeit als Raumpflegerin im Gebäude einer grossen Versicherungsgesellschaft.
So gingen die Jahre vorüber, doch die Hoffnung, dass sich Willi eines Tages bei ihr melden würde, hatte sie nie verlassen. Manchmal quälte sie zwar der Gedanke, dass er an einem exotischen Strand mit einer anderen Frau zusammen Samba tanzt. Solche fixen Ideen verscheuchte sie aber ganz schnell wieder. Lieber würde sie ihn einmal die Woche im Bezirksgefängnis besuchen, als so etwas zuzulassen. Doch sie glaubte immer noch an seine Treue, auch wenn seit seinem Verschwinden bereits 25 Jahre vergangen waren.
Nun hat er endlich Kontakt zu ihr aufgenommen.
Sie stand an der Kasse im Supermarkt, als er Verbindung zu ihr aufnahm.
In jenem Supermarkt, gleich zwei Strassen weiter unten, wo sie seit über 30 Jahren ihre Einkäufe tätigte und Willi früher all donnerstagmorgens seinen Wagen parkte, wenn er sie besuchte, stehen beim Ausgang fünf Kassen in einer Reihe. Die Kunden legen ihre Einkäufe aufs Förderband und stellen danach den leeren Einkaufskorb auf einen Stapel, der davorsteht. So wächst vor jeder Kasse ein Stapel mit Einkaufskörben.
Es gibt in diesem Supermarkt drei Farben von Einkaufskörben; rote, gelbe und grüne. Vor jeder dieser fünf Kassen türmt sich ein Stapel von Einkaufskörben in verschiedenen Mustern aus rot, gelb und grün.
Wenn ein Stapel zu hoch wird und umzukippen droht, kommt ein Angestellter des Supermarktes, schiebt den Stapel hinüber zum Eingang, wo die Kunden hereinkommen und sich einen leeren Einkaufskorb schnappen können, und vor der betreffenden Kasse fängt ein neuer Stapel mit einem neuen Muster aus rot, gelb und grün langsam an zu wachsen.
Sie stand gerade in der Reihe zur mittleren Kasse. Sie hielt ihren gefüllten Einkaufskorb in der Hand und wartete darauf, dass sich die Reihe langsam vorwärtsbewegte. Vor ihren Augen hatte sie alle fünf Stapel der Einkaufskörbe, die vor den Kassen standen. Sie betrachtete die eigentümlichen Muster, welche die roten, gelben und grünen Körbe den Stapeln verliehen. Und plötzlich hat sie den Code geknackt.
HALLO EDITH, HIER IST WILLI
stand da klar und deutlich geschrieben.
Sie liess den Korb mit ihnen Einkäufen fallen und starrte die Stapel an. Kein Zweifel. Er war es.
Wenn man das Muster aus Einkaufskörben in rot, gelb und grün richtig deutet, dann ergibt sich aus jedem Segment, bestehend aus drei Körben, ein Buchstabe. Die Anzahl aller möglichen Farbkombinationen aus drei Farben in einem Dreiersegment entspricht 3 hoch 3, also 3 mal 3 mal 3, was 27 ergibt, also genau der Anzahl Buchstaben unseres Alphabets inklusive eines Sonderzeichens, welches je nach Bedarf ein Fragezeichen, ein Komma oder einen Bindestrich darstellen kann.
Drei Einkaufskörbe eines Stapels ergeben einen Buchstaben. Alle Körbe eines Stapels ergeben, von oben nach unten gelesen, ein Wort. Alle 5 Stapel zusammen ergeben, von links nach rechts gelesen, einen Satz aus fünf Wörtern.

Die Dechiffrierung des Codes aus Einkaufskörben in 3 verschiedenen Farben:
rot               rot               rot               rot               rot               gelb
rot     A        rot     B        rot     C       gelb   D        grün   E        rot     F
rot               gelb             grün            rot               rot               rot
grün            grün             gelb             grün             gelb             grün
rot     G       grün   H       gelb   I         gelb   J        grün   K        rot     L
rot               rot               rot               rot               rot               grün
gelb             grün             gelb             rot               rot               rot
rot     M       rot     N       rot     O       grün   P        gelb   Q       gelb   R
gelb             gelb             grün            grün             gelb             grün
rot               gelb             grün            gelb             gelb             grün
grün   S        gelb   T        gelb   U       grün   V        gelb   W       grün   X
gelb             gelb             gelb             gelb             grün            gelb
grün            gelb             grün
gelb   Y        grün   Z        grün   ? , -
grün            grün             grün

Die erste von Edith empfangene Nachricht aus Einkaufskörben in 3 verschiedenen Farben:

Kasse 1        Kasse 2         Kasse 3        Kasse 4         Kasse 5
                  rot
                  grün   E
                  rot
grün            rot
grün   H       gelb   D
rot               rot
rot               gelb             grün                               rot
rot     A        gelb   I         grün   H                          gelb   R
rot               rot               rot                                  grün
grün            gelb             gelb             gelb             gelb
rot     L        gelb   T        gelb   I         gelb   I         rot     O
grün            gelb             rot               rot               grün
grün            grün             rot               rot               grün
rot     L        grün   H       grün   E        grün   S        rot     L
grün            rot               rot               gelb             grün                 
gelb             grün             rot               gelb             gelb
rot     O       grün   ,        gelb   R        gelb   T        rot     F
grün            grün             grün            gelb             rot
HALLO EDITH, HIER IST WILLI
Sie kümmerte sich nicht um die hilfsbereiten Leute zu ihren Füssen, die ihre Sachen, die sie vor Schreck hatte fallen lassen, wieder zusammenkramten. Sie stürmte zur Kasse 1, riss die Einkaufskörbe vom Stapel und sortierte dann 6 Körbe mit einem neuen Farbmuster aus rot, gelb und grün wieder neu ein. Mit den restlichen Körben hetzte sie rüber zur Kasse 2, wo sie neun Körbe zu einem neuen Muster zusammenstellte. An der Kasse drei waren es gar 18 Körbe, 12 Körbe an Kasse 4 und schliesslich 9 an Kasse 5.
Den umstehenden Leuten, die ihr bei diesem seltsamen Ritual verwirrt zusahen, schenkte sie keine Beachtung. Wenn jemand aber seinen leeren Einkaufskorb in einen Stapel legen wollte, den sie gerade neu zusammengesetzt hatte, riss sie ihm den Korb aus der Hand und zischte ihn böse an.
Als sie fertig war, blieben ihr vier Körbe übrig. Sie warf sie zur Seite, und ein Angestellter des Supermarktes hob sie kopfschüttelnd auf und legte sie in den in Stapel vor den Eingang.
Edith hatte alle fünf Stapel der Einkaufskörbe vor den Kassen neu geordnet. Ihre Nachricht lautete:
WO ZUM TEUFEL BIST DU?
        Sie ging ein paar Schritte zurück zum Regal mit den Süssigkeiten, von wo aus sie alle Kassen überblicken konnte. Vor Aufregung zitterten ihre Knie. Das hastige Umsortieren der fünf Stapel hatte ihr den Atem geraubt. Erschöpft lehnte sie sich zurück und hielt sich die Hand vor die keuchende Brust.
        „Ist alles in Ordnung, Frau Schmid?“
Es war der Filialleiter des Supermarktes. Er war von den Kassiererinnen auf das merkwürdige Treiben mit den Einkaufskörben aufmerksam gemacht worden. Nun stand er ihr gegenüber und war sichtlich besorgt.
Diese nette, ältere Frau war ihm wohl bekannt. In diesen 30 Jahren, seit sie hier einkaufte, war sie bisher noch nie unangenehm aufgefallen. Einmal die Woche besorgte sie hier ihre Einkäufe, allein und schweigsam. Noch nie hatte er sie in Begleitung gesehen.
Wenn sie sich zwischen den Einkaufsregalen begegneten, dann grüsste er sie jeweils freundlich und hatte schon so manches Mal versucht, sie in ein belangloses Gespräch zu verwickeln. Sie war dem alternden Junggesellen nicht unsympathisch. Er fand sie recht anziehend, doch seine Annäherungsversuche waren bisher stets sehr einseitig verlaufen.
        „Doch, doch, alles in Ordnung“, antwortete sie, ohne ihren Blick von den Stapeln mit den Einkaufskörben zu wenden.
        „Sie haben Ihre Einkäufe fallen lassen“, sagte er mit besorgtem Ton und hielt ihr ihren Korb hin.
        „Ja, danke.“
        Sie drehte sich kurz zu ihm hin, schenkte ihm ein zaghaftes Lächeln und nahm ihren Einkaufskorb entgegen, den sie aber gleich wieder hinstellte.
        „Kann ich sonst noch etwas für sie tun?“, fragte er.
        „Nein, nein, es ist alles in Ordnung“, wiederholte sie und heftete ihren Blick wieder zurück auf die Stapel vor den fünf Kassen. Dann sagte sie mit leiser Stimme zu sich selbst:
        „Er ist wieder da, dieser Bastard!“
Inzwischen war es kurz vor Ladenschluss, und die Menge im Supermarkt hatte sich etwas gelichtet. Kasse Nummer 5 wurde geschlossen und der Stapel mit den 18 Einkaufskörben davor blieb unverändert stehen, was Edith etwas beunruhigte.
Doch vor den restlichen vier Kassen standen immer noch einige Leute, taten nacheinander ihre Einkäufe aufs Förderband und den leeren Einkaufskorb in rot, gelb oder grün auf den Stapel davor. Schliesslich standen vor der ersten Kasse neun Einkaufskörbe, ebenfalls neun vor der zweiten, sechs vor der dritten, ebenfalls sechs vor der vierten, und dann noch die verbliebenen achtzehn Körbe vor der geschlossenen Kasse 5. Edith las die Botschaft:
ICH BIN IN EL DORADO
        Von diesem Tag an war Edith täglich im Supermarkt anzutreffen. Morgens um acht, wenn der Laden öffnete, war sie jeweils die erste, die hereinkam.
Zunächst stellte sie sich neben das Regal mit den Süssigkeiten und beobachtete eine Weile das Geschehen vor den fünf Kassen. Der freundliche Filialleiter, der leicht verliebet war in Edith, stellte ihr einen Stuhl dorthin, so dass sie nicht den ganzen Tag stehen musste.
Etwa jede halbe Stunde erhob sie sich von ihrem Stuhl, hastete zu den Kassen vor und sortierte die Stapel mit den Einkaufskörben davor neu um. Diese Zeitspanne variierte und war abhängig von der Frequenz der Kundschaft vor den Kassen.
Kein Mensch traute sich, sie dabei zu stören, und niemand wagte es, sie zu fragen, was das Ganze zu bedeuten habe, denn sie tat es mit solch einer notorischen Entschlossenheit und Hingabe, als ob sie genau wüsste, welcher Korb in welcher Reihenfolge in welchen Stapel vor welche Kasse zu gehören hat.
Dann setzte sie sich wieder in ihren Stuhl vor dem Regal mit Süssigkeiten und beobachtete das weitere Geschehen.
So ging das den ganzen Tag, von morgens um acht bis mittags um zwölf und von nachmittags um zwei bis abends um halb sieben.
Mit den Jahren gewöhnte man sich im Supermarkt an sie, und sie wurde zu so was wie festes Inventar des Geschäftes. Die Stammkunden grüssten freundlich die alte, schweigsame Frau, die auf dem Stuhl neben dem Regal mit Süssigkeiten vor den Kassen sass, und manchmal kam der Filialleiter zu ihr rüber und brachte ihr eine Tasse Tee und einen Teller mit Keksen.
Die Botschaften, die Edith mit Willi austauschte, waren zumeist recht banal.
HABE MIR GESTERN SONNENBRAND GEHOLT
schrieb er mitunter.
Beim Empfang dieser Nachricht hatte man vergessen, den Stapel vor Kasse 4 wegzuschieben, und es türmten sich ganze dreiunddreissig Einkaufskörbe davor.
REIB DICH MIT KUERBISKERNENOEL EIN
konnte sie ihm darauf antworten.
Die Kreation des Wortes KUERBISKERNENOEL war ein äusserst schwieriger Balanceakt vor Kasse 4, bei dem ihr die Leute mit offenen Mündern und unter staunenden Lauten zuschauten. Sie musste dabei ganze achtundvierzig Körbe aufeinander stapeln, was nur zu bewerkstelligen war, indem sie sich auf das Förderband stellte, und dieser riesige Turm aus achtundvierzig Einkaufskörben schwankte gefährlich und drohte zu kippen. Doch die hilfsbereiten Leute, die vor der Kasse standen, stützten den Turm, so dass er nicht umkippte, und so konnte sie an Kasse 5 das letzte Wort, bestehend aus neun Körben, einsortieren.
Dann setzte sie sich wieder in ihren Stuhl, verschränkte die Arme und war mit sich selbst ganz zufrieden. Von der umstehenden Kundschaft bekam sie einen warmen Applaus für ihre Leistung, und der Angestellte des Supermarktes machten sich kopfschüttelnd daran, diesen Riesenstapel aus Einkaufskörben wieder abzubauen.
Doch eines Tages wurden seine Botschaften ziemlich merkwürdig.
ALLES VERWANDELT SICH IN SCHEISSE
        Verwirrt las sie eines morgens diese Botschaft. Sie wusste nicht so recht, was das bedeuten sollte. War das eine von Willis traurigen, philosophischen Erkenntnissen, oder war er heute einfach schlecht drauf, fragte sie sich.
Sie sass in ihrem Stuhl beim Regal mit Süssigkeiten und überlegte, was sie ihm darauf entgegnen sollte, als schon die zweite Nachricht ankam.
MAMA, MAMA, HILF MIR, MAMA!
        Mama? Mit dieser merkwürdigen Anrede hatte er sie noch nie angesprochen. Mama! Merkwürdig genug, dass vor den Kassen eins, zwei und fünf dieselbe Anzahl Körbe mit genau demselben Farbmuster aufgetürmt waren. Aber Mama? Was hatte das zu bedeuten?
Mag sein, dass ihr Verhältnis nach dreissig Jahren, in denen sie sichtlich gealtert war, er aber derselbe geblieben war, wie er sie damals verlassen hatte, zu einer Art Mutter-Sohn-Beziehung geworden ist.
Auch die Konversation, die sie im Supermarkt führten, und wo sie ihm zumeist gute Ratschläge für den täglichen Gebrauch übermittelte, hatte von ihrer Seite her durchaus etwas Fürsorgliches.
Es war so ganz anders als damals, als er sie einmal die Woche besuchte und wo immer er die Gespräche dominierte. Nun waren sie täglich zusammen, ausser sonntags und an Feiertagen, wenn der Supermarkt geschlossen war, und ihre Konversation war beschränkt auf eben diese 5-Wort-Sätze, und das liess keine ausschweifenden Monologe mit eingestreuten Scherzen zu. Ihre gemeinsamen Donnerstage waren längst vergessen und passé.
Sie aber deshalb gleich mit Mama anzureden, war das nicht etwas übertrieben? Sie war leicht beleidigt und wollte ihm das auch zu verstehen geben.
Doch als sie sich von ihrem Stuhl erheben und zu den Kassen schreiten wollte, um die Farben der Einkaufskörbe neu zu sortieren, da traf schon die nächste Botschaft von ihm ein.
DER KOENIG HAT MICH VERBANNT
        Nun war sie völlig verwirrt. War das immer noch Willi, der da zu ihr sprach? Edith ging vor zu den Kassen, sortierte diesmal nur die Einkaufskörbe vor den Kassen 1, 2 und 3 neu um und schob die restlichen zwei Stapel wütend beiseite.
WER SPRICHT DA?
        hatte sie geschrieben.
Sie trat wieder zurück und wartete auf die Antwort. In den Stuhl beim Regal mit Süssigkeiten wollte sie sich nicht setzten, dazu war sie zu aufgeregt. Sie stand kerzengerade vor den Kassen, verschränkte die Arme und liess die Stapel mit den Einkaufskörben nicht aus den Augen.
Die Antwort liess auf sich warten, denn im Laden waren zu dieser Zeit nur einige wenige Hausfrauen und Rentner beim Einkaufen. Zwischendurch kam der Filialleiter zu ihr rüber, doch heute hatte sie keine Lust auf Tee und Kekse und liess ihn mit einer wirschen Bemerkung wieder von dannen ziehen.
Inzwischen häufte sich die Kundschaft im Laden, und dann, nach guten zwei Stunden, war die Antwort endlich da.
GUILLERMO DE LA MIERDA
        Es war kurz vor zwölf, und vor den Kassen drängten sich nun viele Leute, die ihre Mittagseinkäufe erledigen wollten, bevor der Laden um zwölf Mittagspause machen würde.
Edith stand vor dem Regal mit den Süssigkeiten und versuchte, die letzte Nachricht zu verstehen. Wahrscheinlich, so versuchte sie sich einzureden, hatte sie sich geirrt, und das, was sie zu lesen geglaubt hatte, war überhaupt keine Botschaft, sondern nur eine zufällige Aneinanderreihung von Einkaufskörben in rot, gelb und grün.
Doch nun las sie:
KAUF MIR EINE SCHOKOLADE, MAMA
Edith wandte sich zum Regal mit den Süssigkeiten, holte daraus einen Schokoriegel und ging damit zur Kasse. Ringsherum wurde es still, sodass man die Uhr an der Wand über den Kassen ticken hörte. Die verdutzten Leute, die vor der Kasse warteten, liessen sie ganz nach vorne durch, so dass sie sich nicht in die lange Reihe davor anstehen musste.
Die Kassiererin erschrak, als sie Edith vor sich stehen sah. Sie wusste nicht recht, was sie tun sollte. Doch Edith bezahlte anstandslos den Schokoriegel und ging zum Ausgang. Die gläserne Schiebetüre öffnete sich, und sie schritt hindurch.
Draussen war es inzwischen dunkel geworden, und Edith wunderte sich, wie schnell doch die Zeit verging.
Gleich neben dem Ausgang stand ihr Wagen, und davor, mit den Zügeln an einen Pfahl gebunden, wartete geduldig ihr Wasserbüffel und löschte seinen Durst aus einer Wassertränke.
Sie band die Zügel los, stieg auf den hölzernen Wagen, nahm die Peitsche in die Hand und schwang sie in die Höhe. Ein Knall schallte durch die Luft.
Edith rief ein lautes „Hü“, und der Wasserbüffel hob seinen Kopf aus der Tränke und setzte sich behäbig in Bewegung, sodass die hölzernen Räder in der Achse des Wagens leise quietschten.
Kapitel 8
Gott der Müllmenschen
                                                                                     Kleine Erleuchtungen erheitern den Alltag“
                                                                                     (Fabio DiCugno)
Paco wollte da nicht raus. Auf keinen Fall. Verzweifelt suchte er nach einem Halt, doch die schlüpfrigen Wände ringsherum entglitten seinen Händen. Immer wieder pressten sich die Wände zusammen und stiessen Paco zu diesem grossen Loch hin, durch das manchmal ein Strahl aus grellem Licht hindurch schoss, so dass Paco zusammenzuckte.
Er wusste, dass von dort draussen nichts Gutes zu erwarteten war. In den neun Monaten, die er hier verbracht hatte, machte er keine guten Erfahrungen mit der Aussenwelt. Sie machte auf ihn einfach keinen vertrauenerweckenden Eindruck.
Anfangs kam von dort draussen eine grosse, spitzige Nadel zu Paco hinein und hätte ihn beinahe im Auge getroffen, wenn er sich nicht rechtzeitig gebückt hätte. So traf die Nadel nur die Wand seiner Höhle, und diese Wunde blutete dann eine Zeit lang.
Manchmal wurde seine Höhle von heftigen Schlägen getroffen, die ihn derart durchschüttelten, dass er beinahe das Bewusstsein verloren hätte. Einmal wurde seine Höhle dermassen heiss, dass ihm davon richtig schlecht wurde. Und immer wieder hörte Paco diesen Lärm, der von dort draussen zu ihm hinein drang, und der ihm in seinen Ohren schmerzte.
Nein, dort wollte Paco auf keinen Fall hinaus. Doch die Wände um ihn herum zogen sich immer enger zusammen und schoben ihn zu diesem Loch hin, das immer grösser wurde. Mit letzter Kraft versuchte Paco, einen Ausweg aus seiner verzweifelten Situation zu finden. Vielleicht gab es irgendwo einen Hinterausgang, der ihm bisher noch nicht aufgefallen war, einen Notausstieg in eine andere Welt, die nicht so laut, so grell und so grausam war.
Doch er fand keinen anderen Ausgang. Nirgends gab es eine verborgene Schiebetür mit der Aufschrift „Universum B“.
Schliesslich konnte er den kräftigen Stössen nicht mehr widerstehen und wurde hinausgestossen in diese Welt, die ihm so gar nicht geheuer war.
        „...und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“
        „Amen.“
Pater Thomas hob die Hostie an seinen Kopf und sprach:
„Und der Herr nahm das Brot, brach es und sprach zu seinen Jüngern: ‘Nehmet und esset davon, denn dies ist mein Leib.’“
        „Der Leib Christi“, klang es monoton zurück.
„Und er nahm den Kelch, reichte ihn seinen Jüngern und sprach: ‘Nehmet und trinket daraus, denn dies ist mein Blut.’“
„Der Leib Christi.“
„Herr, befreie uns durch Dein heiliges Fleisch und Blut von all unseren Sünden, und erlöse uns vom Bösen.“
„Amen.“
Der Pater brach die Hostie entzwei.
„Herr Jesus Christus, der Du hinweg nimmst die Sünden der Welt, erbarme Dich unser. Der Genuss Deines Leibes, den ich Unwürdiger zu empfangen wage, gereiche mir nicht zum Gerichte und zur Verdammnis, sondern durch Deine Güte zum Schutz für Leib und Seele und zu meiner Heilung. Der Du herrschest mit Gott dem Vater in der Einheit des Heiligen Geistes in alle Ewigkeit.“
„Amen.“
Pater Thomas nahm den goldenen Kelch mit den Hostien vom Altartisch und hob ihn in die Höhe.
„Sehet das Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünden der Welt.“
„Herr, ich bin nicht würdig, dass Du eingehst unter meinem Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.“
„Der Leib Christi.“
        „Amen.“
Paco wuchs in einem Waisenhaus auf. Es wurde geführt von der christlichen Bruderschaft des Bartholomäus Ordens, und die Kinder blieben solange dort, bis sie die Kommunion empfangen hatten. Normalerweise war das im Alter von sechs bis sieben Jahren der Fall, wenn sich die inneren Organe der Kinder bereits voll entwickelt hatten.
Im Waisenhaus wurde Paco auf seine Kommunion vorbereitet. In allen Räumen hing ein Kreuz mit der Figur eines Mannes, den man an dieses Kreuz genagelt hatte. Es hiess, dieser Mann sei der Sohn Gottes gewesen, und er hätte seinen Leib und sein Blut den Menschen zu Essen und zu Trinken gegeben, kurz bevor sie ihn an dieses Kreuz genagelt hatten.
Einer seiner Jünger, so hiess es weiter, war der Apostel Bartholomäus. Und dieser habe gar die eigene Haut ausgezogen, um sie den Menschen zu Ehre Gottes herzugeben.
Und aus diesem Grund, so hiess es, müsse auch Paco etwas von sich hergeben.
Ungefähr zweimal im Monat kam eine kleine Gruppe von weiss gekleideten Menschen ins Waisenhaus. Diese Leute brachten Taschen mit sich, in welchen eigenartige Werkzeuge aus glänzendem Metall drin waren, und grosse Kühlboxen, die mit Eis gefüllt waren. Die weiss gekleideten Menschen erteilten den Kindern die Kommunion.
Der Raum, in dem die Kommunion erteilt wurde, war ein weiss gekacheltes Zimmer. Der Boden des Zimmers war mit abwaschbaren Fliessen bedeckt, und in der Mitte stand eine Liege aus glänzendem Metall. Über der Liege hing eine grosse Lampe. An einer Wand hing ein gelber Wasserschlauch, der dauernd tropfte.
Die Kinder, die für die Kommunion vorgesehen waren, wurden am Abend zuvor gründlich gebadet. Am Morgen darauf wurde ihnen von einem der weiss gekleideten Menschen etwas Blut abgenommen, um die Blutgruppe zu ermitteln und um zu erfahren, ob das Kind an irgendwelchen Krankheiten litt.
Danach wurden die Kommunikanten in den weiss gekachelten Raum geführt, wo sie sich auf die metallene Liege unter der Lampe legten, und wo sie mittels Chemikalien wieder zum Schlafen gebracht wurden.
Dann wurde ihnen von den weiss gekleideten Menschen die Bauchdecke aufgeschnitten und manches aus ihrem Inneren entnommen.
Die Sachen, welche die weiss gekleideten Menschen aus den Kindern herausschnitten, taten sie in die mit Eis gefüllten Kühlboxen und nahmen sie mit. Meistens war es nur eine Niere, manchmal aber auch die Milz, das Herz oder die Leber.
Auch ein Auge wurde von ihnen hin und wieder herausgeschnitten und mitgenommen, zumeist dann, wenn das Kind blaue Augen hatte. Das kam aber nicht sehr oft vor. Die meisten Kinder im Waisenhaus hatten braune Augen.
Die Kühlboxen mit den Sachen, die aus den Kindern herausgeschnitten waren, luden die weiss gekleideten Leute in einen grossen, weissen Wagen. Sie wurden ins Gringo-Land gebracht, hatte Paco gehört.
Paco hatte schon Vieles vom Gringo-Land gehört. Es musste sehr weit weg sein und sehr reich und sehr schön. Im Waisenheim erzählte man sich die tollsten Geschichten über die Gringos und über das Gringo-Land, obwohl keiner der Kinder aus dem Waisenhaus jemals dort war oder jemals einen Gringo zu Gesicht bekommen hatte.
Paco glaubte diesen Geschichten nicht recht. Es kam ihm merkwürdig vor, dass in so einem grossartigen Land Menschen leben sollten, die keine Nieren, keine Augen und keine Herzen haben.
Die Kinder, welche die Kommunion empfangen hatten, kamen nicht mehr ins Waisenheim zurück.
Als es für Paco an der Zeit war, seine Kommunion zu empfangen, war er gerade sechs Jahre alt. Eines Abends kam Pater Thomas zu ihm, fasste ihn mit beiden Händen an der Schulter.
„Mein Sohn, es ist soweit.“
Man steckte man ihn in die Badewanne und seifte ihn gründlich ein. Dann wurde er ins Bett gebracht. Sein Bett war frisch bezogen. Pater Thomas nahm ihm die Beichte ab und legte sich dann zu ihm, um ihm in der Nacht beizustehen.
Am Morgen darauf kamen die weiss gekleideten Menschen, nahmen ihm etwas Blut ab und führten ihn in den weiss gekachelten Raum, wo er sich auf die Liege unter der grossen Lampe hinlegte. Die metallene Liege war kalt und hart, und das grelle Licht der Lampe blendete ihn.
Jemand gab ihm eine Spritze, und plötzlich wurde er ganz schläfrig.
Nachdem er eingeschlafen war, träumte er von rosaroten Hunden in Ruderbooten. Es waren drei Boote mit jeweils drei Hunden drin. Die Hunde machten ein Wettrennen.
        Paco hatte Blutgruppe 0 Rh+, eine recht häufige Blutgruppe, und wie fast jeder im Waisenhaus hatte er braune Augen.
        Übrigens haben alle Ureinwohner Südamerikas die Blutgruppe 0. Verfügen sie gleichzeitig über einen negativen Rhesusfaktor, so sind sie als Universalspender geeignet. Dies bedeutet, ihr Blut und ihre Organe, verabreicht einem anderen Menschen, verursacht keine Abwehrreaktion, ganz egal, welcher Blutgruppe der Empfänger angehört.
Dies nur nebenbei als Erläuterung, weshalb das Spenden von Organen auf jenem Kontinent so häufig ist.
Als Paco wieder aufwachte, fror er, und der Bauch tat ihm weh. Er lag nicht in seinem Bett im Waisenhaus, sondern neben einer Mauer am Strassenrand. Er war zugedeckt mit einer grossen Kartonschachtel, in der früher einmal ein Computer verpackt war.
Er lag auf der Strasse neben der Kirchenmauer von San Guillermo, einem Aussenbezirk der Stadt, nahe der städtischen Müllkippen.
Vor Schmerzen konnte sich Paco kaum bewegen. Mit der Hand betastete er vorsichtig seinen Bauch und befühlte das grosse Pflaster links von seinem Bauchnabel, wo er den grössten Schmerz verspürte und wo es sich irgendwie leer anfühlte. Sein Kopf dröhnte und er fror.
Dann machte er langsam die Augen auf.
Anfangs drehte sich alles um ihn, und er konnte seine Umgebung nur verschwommen wahrnehmen. Aber er sah mit beiden Augen. Das beruhigte ihn etwas.
Er bemerkte, dass er nicht allein war. Neben ihm lag Esmeralda. Paco kannte sie aus dem Waisenhaus. Esmeralda war sieben Jahre alt, hatte schwarzes Haar und grüne Augen. Im Waisenhaus hatten sie und Paco oft zusammen gespielt.
Esmeralda war noch nicht aufgewacht. Paco schaute sie an und stellte fest, dass auch sie ein grosses Pflaster links vom Bauchnabel hatte. Doch sie hatte noch ein weiteres Pflaster auf dem rechten Auge.
        Die Siedlung rund um die Kirche San Guillermo bestand aus Wellblechhütten, und die Menschen, die da wohnten, ernährten sich von den nahegelegenen Müllkippen.
Sie sammelten dort leere Blechdosen, die sie dem Blechdosenhändler verkauften. Für hundert leere Dosen aus Weissblech zahlte ihnen der Blechdosenhändler 50 Centavos, für hundert Aluminiumdosen 62 Centavos.
Sie sammelten Kleider, die noch einigermassen brauchbar waren, und verkauften sie dem Altkleiderhändler. Für ein gut erhaltenes T-Shirt gab es 20 Centavos, für eine Hose 60 und für eine Jacke, die noch nicht ganz abgetragen war, gab es manchmal sogar einen ganzen Peso.
Die Kleider, die nicht mehr zu verkaufen waren, weil sie schon zu abgetragen und durchlöchert waren, behielten die Müllmenschen für sich oder verkauften sie dem Lumpenhändler.
Sie sammelten Flaschen aus Glas und Flaschen aus Plastik, die sie dem Flaschenhändler verkauften.
Sie sammelten Schuhe und verkauften sie dem Schuhhändler, und sie sammelten Essensreste, die sie aber nicht verkauften, sondern selbst assen oder mit nach Hause nahmen für ihre Familie.
        Im Viertel von San Guillermo hatten viele Menschen eine lange Narbe links oder rechts vom Bauchnabel, und einige hatten auch eine Augenbinde. Einer von ihnen war Felipe.
Felipe lebte mit seiner Frau Amelia und den drei Kindern Orlando, Pedro und Rosaria in einer der Wellblechhütten nahe der Kirchenmauer.
Amelia war wieder schwanger, wie fast jedes Jahr, und das ärgerte Felipe, denn noch mehr Kinder konnte er sich nicht leisten.
Zum Glück waren Pedro und Orlando schon alt genug, um in den Müllkippen zu arbeiten. Sie waren vier und fünf Jahre alt. Doch die dreijährige Rosaria musste immer noch genährt werden.
So würde Felipe das Neugeborene wohl wieder vor die Kirchentüre von San Guillermo bringen, wenn es soweit war.
So machten das alle Einwohner von San Guillermo, denn niemand konnte sich es leisten, allzu viele Kinder zu haben. Die vor der Kirchentüre ausgesetzten Neugeborenen wurden von den Mönchen des Bartholomäus Ordens mitgenommen und in ein Waisenhaus gebracht.
        Wie jeden Morgen wollte Felipe auch heute sehr früh zur Müllkippe raus, um einen guten Fang zu machen. Als er aus seiner Wellblechhütte trat, sah er die grosse Kartonschachtel vor der Kirchenmauer liegen. Es gab noch viele andere Kartonschachteln an der Strasse vor der Kirche, doch diese war so gut wie neu. Sie war Felipe bisher noch nicht aufgefallen.
In den anderen Kartonschachteln wohnten Leute, die noch nicht so lange in San Guillermo waren und kein Geld hatten, um sich eine eigene Wellblechhütte zu leisten. Es waren zumeist Kinder.
Felipe wollte sich diese neue Kartonschachtel näher ansehen. Er ging hin, hob die Schachtel hoch und sah die zwei Kinder darunter liegen.
Das Mädchen schien tot zu sein. Doch der Junge bewegte sich und stöhnte etwas.
Felipe war enttäuscht, dass diese Kartenschachtel bewohnt war. Er dachte eigentlich, dass sie sich gut geeignet hätte, das Loch im Dach seiner Wellblechhütte zu stopfen, durch das seit einiger Zeit der Regen hindurch tropfte.
Er legte Schachtel wieder zurück und ging zur Hütte von Rodrigo, der Arzt und Totengräber von San Guillermo war, je nachdem, was gerade gefragt war. Am meisten gefragt waren Abtreibungen.
        „He, Rodrigo, da ist Kundschaft für dich!“, rief Felipe, nachdem er heftig auf das Wellblech seiner Hütte geklopft hatte.
Rodrigo steckte seinen Kopf hinaus und sah Felipe an.
        „Schon wieder deine Frau?“
        „Ach, das letzte Mal, als du an ihr herumgepfuscht hast, hat sie dann zwei Wochen lang geblutet. Noch einmal lass ich dich da nicht mehr ran. Nein, da drüben an der Mauer unter dem Karton. Da liegen zwei.“
        Rodrigo ging rüber zur Kirchenmauer, hob den Karton hoch und sah sich die zwei Kinder an.
„So eine Scheisse! Schon wieder zwei Neue für San Guillermo“, dachte er.
Paco, der vor Schmerzen stöhnte, sah ihn an. Neben ihm lag Esmeralda, und auch sie war inzwischen zu sich gekommen und wimmerte leise.
        „Na mein Kleiner, wer bist denn du?“
Rodrigo kümmerte sich anfangs um die zwei Kinder. Er wusch ihre Wunden mit einem Aufguss von Kamillenblüten und Aquardiente, machte ihnen frische Verbände und fütterte sie mit warmer Milch, in der Brotstücke eingeweicht waren.
Er machte ihre Behausung an der Kirchenmauer etwas wohnlicher, besorgte ihnen als Bett ein Stück Wellkarton, so dass sie nicht auf dem baren Asphalt liegen mussten.
Aus der grossen Kartonschachtel, in der früher ein Computer verpackt war, formte er ein Dach, das er mit einer Plastikfolie überzog, so dass die Kinder darunter nicht vom Regen nass wurden, und manchmal, nachts, wenn die Kinder vor Hunger und Kälte nicht schlafen konnten, kam er rüber und erzählte ihnen Geschichten. Eine davon war die Geschichte von Prinz Guillermo.
Als Esmeraldas leere Augenhöhle ausgeheilt war, besorgte er ihr zunächst eine schwarze Augenbinde. Später gab er ihr eine grosse Glasmurmel in der Form und Farbe eines echten Auges, die sich Esmeralda in die leere Augenhöhle schieben konnte.
Rodrigos Dienste waren nicht ganz selbstlos. Paco würde ihm später einen Fünftel seiner Beute aus den Müllkippen abgeben müssen, solange, bis er seine Schuld abbezahlt hat. Und Esmeralda würde er an Emilio Reyna verkaufen.
Emilio besass viele Mädchen und auch ein Paar Jungen. Er brachte sie jeweils zu den Hotels in die Innenstadt und vermietete sie stundenweise an die Gringos, die dort wohnten. Das war ein gutes Geschäft. Emilio war der reichste Mann von San Guillermo.
Als Paco wieder bei Kräften war, fing er an, in den Müllkippen zu arbeiten. Dazu gab ihm Rodrigo einen Stock, mit welchem er im Abfall herumwühlen konnte, und einen grossen Plastiksack, wo er seine Beute verstauen konnte.
Die besten Plätze auf der Müllkippe, wo der frische Abfall lag, gehörten Leuten, die schon sehr lange hier arbeiteten.
Es gab eine klare Hierarchie in San Guillermo. Die Neulinge fingen auf den schlechtesten Plätzen an, wo kaum mehr etwas zu finden war. Sie mussten mit ihren Stöcken tief graben, um ein altes Hemd, eine Bierdose oder eine Pizzaschachtel zu finden, an der noch Käsereste klebten.
Mit den Jahren konnte man sich hocharbeiten bis zu den guten Plätzen, und wenn man stark und zäh war und sich der Konkurrenz widersetzen konnte, so gehörte einem eines Tages eine Parzelle direkt vor den Abladeplätzen der grossen Müllwagen, wo die meisten Dosen, Flaschen, Schuhe und Kleider zu finden waren und wo die Essensreste noch frisch und nicht von Maden zerfressen waren.
Paco verbrachte den ganzen Tag auf der Müllkippe. Sein Platz war einer der Schlechtesten. Mit seinem Stock musste er tief graben, um etwas Brauchbares zu finden, und sein Plastiksack füllte sich nur sehr langsam.
Die Essensreste, die er fand, ass er nicht alle selbst. Er hatte einen Joghurtbecher mit sich, worin er die Käsereste aus den Pizzaschachteln sammelte, um sie abends mit Esmeralda zu teilen.
Esmeralda erholte sich nur langsam. Sie war noch nicht stark genug, um zu arbeiten. Sie lag den ganzen Tag unter der Kartonschachtel an der Kirchenmauer, und hin und wieder schaute Rodrigo nach ihr.
Abends kam Paco nach Hause. Seine Tagesbeute hatte er inzwischen den Händlern verkauft und einen Fünftel seiner Einnahmen an Rodrigo abgegeben. Mit den restlichen Centavos kaufte er etwas Milch, Streichhölzer und eine Kerze.
Paco hatte aus der Kirchenmauer ein Paar Steine herausgelöst, so dass eine kleine Nische in ihrer Behausung entstanden war. In dieser Nische stellte er die Kerze auf und zündete sie an. Dann assen Paco und Esmeralda die Käsereste aus dem Joghurtbecher und tranken die Milch, die Esmeralda über einer mit Benzin gefüllten Blechdose warm gemacht hatte.
Eines Morgens, noch bevor sich Paco zu den Müllkippen aufgemacht hatte, erschien Rodrigo vor ihrer Hütte und rief nach Esmeralda.
„Schieb das Glasauge rein und komm mit, mein Kleines!“, sagte er.
„Zuerst kriegst du ein hübsches neues Kleid, und dann gehen wir in die Stadt. Ich werde dir einen Gringo zeigen.“
Er nahm Esmeralda mit sich.
Paco war ganz aufgeregt. Esmeralda würde einen Gringo kennen lernen. Er selbst hatte noch nie einen Gringo gesehen.
Paco beneidete sie darum. Den ganzen Tag, während er auf der Müllkippe arbeitete, musste er daran denken, dass Esmeralda sich mit einem Gringo traf. Er war sehr neugierig, was sie ihm erzählen würde.
Am Abend, als Paco von der Arbeit kam, war Esmeralda bereits zu Hause. Sie lag unter dem Kartondach und schien zu schlafen. Paco zündete die Kerze in der Nische an und sah, dass ihr eines Auge offen war. Die Glasmurmel hatte sie herausgenommen. Sie hatte ein neues, hübsches Kleid an.
„Wie war es mit dem Gringo?“, fragte er aufgeregt, „wie sah er aus?“
Esmeralda schwieg.
        „Sind die Gringos wirklich gross und mächtig und haben Haare aus Gold?“, wollte er wissen.
Esmeralda schwieg.
        „Sprach er eine merkwürdige Sprache, die niemand versteht?“
Esmeralda schwieg.
        „Hatte er keine Augen, keine Nieren, kein Herz?“
        „Nein,“ sagte sie leise, „ein Herz hatte er nicht.“
Das war alles, was sie über den Gringo sagte. Mehr brachte Paco aus ihr nicht heraus, auch wenn er sie mit seinen Fragen noch so bestürmte. Und irgendwie begriff er dann langsam, dass das nichts Gutes war, was die Gringos mit Esmeralda machten.
Von nun an kam Rodrigo jeden Morgen und nahm Esmeralda mit in die Stadt. Er tat es im Auftrag Emilio Reynas, denn ihm gehörte Esmeralda. Doch Emilio war viel zu beschäftigt, um sich um jede seiner Mädchen persönlich zu kümmern.
Hin und wieder besorgte Rodrigo ihr ein neues Kleid, und manchmal kam Esmeralda auch die ganze Nacht lang nicht nach Hause.
Esmeralda wurde immer schweigsamer und trauriger zu, und Paco fing an, Rodrigo zu hassen. Zu gerne würde er heimlich ihm und Esmeralda in die Stadt folgen und sie belauern, um zu erfahren, was dort geschah.
Doch das konnte er nicht tun. Alle Tage musste er in den Müllkippen arbeiten, um satt zu werden und um seine Schulden bei Rodrigo abzuzahlen.
Wenn Paco das Viertel von San Guillermo verliess, dann nur, um das Benzin zu besorgen, womit Esmeralda und er die Essensreste aufwärmten, welche Paco aus den Müllkippen holte. Dazu nahm er eine leere Cola-Flasche und ein Stück Plastikschlauch. Er wartete, bis es dunkel war, denn ausserhalb seines Viertels war es gefährlich, sich sehen zu lassen, und schon so mancher Bewohner aus San Guillermo wurde dort totgeschlagen.
Die Beschaffung des Benzins gelang besser zu zweit. Früher machte das Paco zusammen mit Esmeralda. Doch seit Esmeralda für Emilio arbeitete, hatte sie keine Zeit mehr dafür, und Paco tat sich mit Manolo zusammen, um Benzin zu besorgen.
Manolo war neu in San Guillermo. Er kam aus einem der besseren Bezirke der Stadt. Früher hatte Manolo einen Vater und eine Mutter, lebte in einem schönen Haus, ging zur Schule und hat dort etwas Lesen und Schreiben gelernt. Er war sogar Ministrant gewesen und konnte Paco einiges über den Mann erzählen, den man ans Kreuz genagelt hatte und für den Paco seine Niere hergeben musste.
Manolos Eltern mussten etwas falsch gemacht haben, denn jetzt waren sie tot, und nun hauste auch Manolo in einem schäbigen Karton an der Kirchenmauer, und auch er hatte eine lange Narbe links von seinem Bauchnabel.
Im Schutz der Dunkelheit schlichen sie davon. Ihr Weg führte über die Müllhalden. Sie schlichen vorbei an den grossen Baggern, die über die Müllkippen fuhren, um den Abfall zusammen zu stauchen.
Die Bagger mit den grossen, dornenbesetzten Rädern aus Stahl, die tief in den Untergrund stachen, befuhren Tag und Nacht die Müllkippen von San Guillermo. Sie sahen aus wie riesige, urtümliche Ungeheuer, und Tag und Nacht war das Brummen ihrer Motoren zu hören.
Die Ungeheuer waren die Wächter von San Guillermo. Sie wachten darüber, dass niemand die Hierarchie verletzt und niemand in einer Parzelle arbeitete, in der er nichts zu suchen hatte.
Sie zerquetschten und pressten den Müll zusammen, um es den Müllmenschen nicht zu einfach zu machen, an ihren Lebensunterhalt zu kommen. Zum Spass setzten sie manchmal den Müll in Brand. Und sie wachten darüber, dass niemand das Viertel von San Guillermo verlässt.
Unbemerkt passierten Paco und Manolo die Ungeheuer. Sie kletterten über einen Stacheldrahtzaun und sprangen auf die Strasse, welche an den Schlachthöfen entlang ins benachbarte Viertel führte.
In den Schlachthöfen wurde nachts gearbeitet. Dumpfer Lärm klang aus den Gemäuern, und hin und wieder kam ein Lastwagen herangefahren und verschwand durch das Tor einer Fabrikhalle.
Paco und Manolo drückten sich entlang der verrussten Backsteinwände, welche die Schlachthöfe von der Strasse trennten. Wenn ihnen die Scheinwerfer eines Autos entgegenkamen, versteckten sie sich hinter einer Toreinfahrt. Dann schlichen sie weiter.
Sie bogen in eine Seitenstrasse und kamen in das Rotlicht-Viertel der Stadt. Am Strassenrand standen viele Autos, und aus den neonbeleuchteten Lokalen ringsum klang fröhliche Musik und ausgelassenes Geplauder. Einige Huren standen an der Strasse und unterhielten sich mit den Freiern, die am Steuer ihrer Autos sassen.
Paco und Manolo versteckten sich in der Lücke zwischen zwei Autos. Paco nahm den Plastikschlauch und die leere Cola-Flasche und kroch damit hinter dem Auto empor.
Inzwischen hielt Manolo Wache.
Paco hörte, wie sich der Mann im Auto mit der Frau unterhielt.
„Wie viel nimmst du denn, Schätzchen?“
Paco schraubte den Tankverschluss des Autos auf und schob den Plastikschlauch hinein.
„Kommt ganz drauf an, worauf du stehst, mein Süsser.“
Das andere Ende des Schlauches nahm er in den Mund und sog daran. Das Benzin kam hoch.
„Wie wär’s, wenn du mir einen blasen würdest, Schätzchen!“
Paco presste seinen Daumen an die Schlauchöffnung und führte sie hinunter zur leeren Cola-Flasche.
„Das kostet dich zehn Posos.“
Das Benzin plätscherte in die Flasche.
„He, Paco! Dort drüben ist Esmeralda!“, flüsterte Manolo hinter dem Auto.
Hastig zog Paco den Schlauch aus dem Tank und machte die halbvolle Cola-Flasche zu. Dann kroch er zu Manolo hinters Auto.
        „Wo?“, fragte er.
        „Dort drüben“, flüsterte Manolo und deutete mit dem Finger zur anderen Strassenseite.
        Auf der anderen Strassenseite erkannte er Esmeralda. Sie hatte ein schönes, neues Kleid an. Neben ihr ging Rodrigo und hielt sie am Arm fest. Rodrigo trug einen eleganten weissen Anzug, einen weissen Hut mit schwarzer Hutschleife und einen Spazierstock mit goldenem Knauf. Sie überquerten eine dunkle Seitengasse und blieben vor einem schäbigen Hotel stehen.
Vor dem Eingang des Hotels stand ein Mann. Emilio unterhielt sich mit ihm. Der Mann war ziemlich klein und etwas korpulent. Er beugte sich zu Esmeralda runter und streichelte kurz ihre Wange. Dann langte in seine Westentasche und reichte Rodrigo einige Geldscheine. Rodrigo zählte die Scheine und nickte. Der andere Mann fasste Esmeralda am Arm und ging mit ihr ins Haus.
Rodrigo sah ihnen einige Sekunden lang nach, dann drehte er sich zur Strasse um und zündete sich eine Zigarette an.
        „Das muss ich sehen!“, flüsterte Paco und wollte über die Strasse rennen. Doch Manolo hielt ihn zurück.
        „Bist du verrückt? Da kommst du nicht rein!“, zischte er ihn an.
Also blieben die beiden Jungen kauernd hinter dem Wagen versteckt, in welchem gerade eine Hure ihrem Freier den Schwanz lutschte, und beobachteten das Gebäude auf der anderen Strassenseite.
Vor dem Eingang schlenderte Rodrigo hin und her und rauchte seine Zigarette. Das Klicken seines Spazierstocks hallte über die Strasse. Hin und wieder blieb er stehen und blickte sich um. Er schaute auf seine goldene Armbanduhr, warf die Zigarette auf die Strasse, trat sie aus, und dann war wieder das Klicken seines Spazierstocks zu hören.
In einem Zimmer, das zur Seitengasse hinausführte, ging das Licht an. Das Zimmer lag im ersten Stock, und Paco und Manolo bemerkten von ihrem Versteck aus das erleuchtete Fenster der hinteren Hausfront an der Seitengasse. Sie warteten, bis Rodrigo ihnen der Rücken zukehrte.
„Los, komm mit!“, flüsterte Paco.
Sie hasteten über die Strasse in die dunkle Seitengasse. Unter dem beleuchteten Fenster blieben sie stehen und drückten sich an die Hausfassade.
„Hilf mir hoch!“, flüsterte Paco zu Manolo.
Manolo hielt ihm die verschränkten Hände hin. Paco stieg von Manolos Händen auf seine Schultern und stützte sich dabei an der Hausfassade. Als er aufrecht auf Manolos Schultern stand, konnte er sich am Fenstersims festhalten. Er zog sich daran hoch und konnte ins Zimmer sehen.
        „Kannst du was sehen?“, flüsterte Manolo von unten.
Paco schaute durch das Fenster.
Durch eine vergilbte Gardine blickte er in ein kleines, schäbiges Zimmer.
Eine geblümte Tapete, deren Farbe längst ergraut war, hing in Fetzen von den Wänden. An der Decke hing eine schummrige 20-Watt-Glühbirne und beleuchtete das Zimmer in einem matten Licht. Ein Bett stand im Zimmer. Es war zerwühlt und die Bettlaken waren voller Flecken. Eine Kakerlake krabbelte über das Kopfkissen und kletterte die geblümte Tapete hoch. An einer Wand hing ein Spiegel, und ein Stuhl stand davor.
Der Mann, der Esmeralda ins Haus mitnahm, setzte sich auf das Bett und knöpfte sich die Hose auf.
Sieht nicht wie ein Gringo aus, dachte Paco.
Der Mann hatte dunkle, schüttere Haare und war klein und dick.
„Wie alt bist du denn, mein Kleines?“, hörte ihn Paco fragen.
Der Mann hatte einen seltsamen Akzent.
Esmeralda stand vor dem Spiegel und kehrte dem Mann den Rücken zu. Im matten Spiegel konnte Paco sehen, wie sich Esmeralda das Glasauge aus der Augenhöhle zog. Sie legte es auf das Sims unter dem Spiegel. Im Spiegel sah sie zum Fenster und erkannte Paco davor. Lange sahen sie sich durch den Spiegel an, Ihr Gesichtsausdruck blieb jedoch ausdruckslos und unbewegt.
Der Mann erhob sich vom Bett und ging auf Esmeralda zu. Er fasste sie bei den Schultern, drehte sie zu sich um und drückte ihren Kopf nach unten.
Plötzlich hörte Paco einen dumpfen Schlag. Er blickte hinter sich nach unten und sah Manolo am Boden liegen. Sein Kopf blutete. Rodrigo stand über ihm und schlug mit dem goldenen Knauf seines Spazierstocks immer wieder auf Manolos blutenden Kopf ein.
„Du verfluchte kleine Ratte!“, brüllte Rodrigo und schlug mit voller Wucht auf den Jungen ein.
Paco löste seinen Griff vom Fenstersims und fiel auf den Boden. Direkt neben Manolos leblosen Körper blieb er liegen.
Er spürte den Schlag von Rodrigos Stock auf seinem Rücken. Er wälzte sich herum und konnte einem Schlag auf den Kopf gerade noch ausweichen.
Er sprang auf die Beine und rannte zur Strasse hinaus. Er hörte Rodrigo hinter ihm keuchen. Paco stürmte über die Strasse, griff sich die Cola-Flasche, die er am Strassenrand zwischen den Autos gelassen hatte, und rannte damit auf die Strasse zu, die zu den Schlachthöfen hinausführte.
Rodrigo war ihm dicht an den Fersen. Immer lauter hörte Paco die Schritte und das Fluchen hinter ihm. Rodrigo war schneller als er.
Paco hörte das Hupen eines Lastwagens hinter ihnen. Im Rennen sah er das Scheinwerferlicht neben ihm auftauchen. Es wurde immer heller.
Er stülpte sich die benzingefüllte Cola-Flasche in seine Hose. Als der Lastwagen an ihm vorbei rauschte, setzte er zum Sprung an. Er bekam den Griff der Ladeluke zu fassen, und mit den Füssen fand er Halt an der hinteren Stossstange des Lastwagens.
Er wandte den Kopf und sah Rodrigos Umrisse, von den Rücklichtern des Lasters rot erleuchtet, langsam in der Dunkelheit verschwanden. Aus dem Innern des Lastwagens hörte er das schrille Gebrüll von Schweinen, die zum Schlachthof gefahren wurden. Paco war eins von ihnen.
„Hoffentlich hat er mich nicht erkannt“, dachte er.
Als er zuhause ankam, schmerzte ihn der Rücken. Er weinte. Er weinte vor Schmerzen und er weinte wegen Manolo, der tot war. Er dachte daran, dass er auch so gut wie tot war, falls Rodrigo ihn erkannt hatte. Er dachte an Esmeralda, und da weinte er noch mehr. Er kam sich elend vor. Er war schuld, dass Manolo tot war, und er konnte nichts für Esmeralda tun.
Paco nahm einen Plastikbeutel und schüttete aus der Cola-Flasche etwas Benzin hinein. Er blies den Beutel auf, bis er prall war. Dann hielt er sich die Öffnung des Beutels an die Nase und inhalierte kräftig.
Die Benzindämpfe krochen in seine Lungen. Der Schmerz liess etwas nach. Er inhalierte nochmals. Langsam entspannte er sich. Er legte sich auf den Wellkarton unter seinem Kartondach und machte die Augen zu.
Er inhalierte nochmals. Die Sterne funkelten am Nachthimmel, am Horizont sassen die rosaroten Hunde in ihren Booten und ruderten, und der Mond spiegelte sich in der glatten Oberfläche des Sees.
Als Esmeralda früh morgens nachhause kam, schlief er tief und fest. Sie legte sich zu ihm, schmiegte sich an ihn und flüsterte ihm ins Ohr: «Hab keine Angst, mein Bruder, Rodrigo hat dich nicht erkannt.»
Obwohl Paco nun bereits seit mehr als vier Jahren in den Müllkippen arbeitete, hatte er sich noch nicht besonders weit in der Hierarchie hochgearbeitet. Sein Platz war immer noch einer der Schlechtesten, und die Parzellen wurden immer kleiner, weil immer mehr junge Menschen in San Guillermo auftauchten. Die meisten von ihnen hatten eine Narbe links oder rechts vom Bauchnabel, und einige von ihnen hatten auch eine Augenbinde.
Es war schon Abend an jenem Tag, an welchem Paco seinen Gott fand. Paco wollte bereits nach Hause gehen.
Es war ein schlechter Tag gewesen. Sein Plastiksack war nur halb gefüllt mit alten Kleiderfetzen, für die er höchstens fünf Centavos bekommen würde, und mit einer toten Ratte, die er zum Abendessen verspeisen wollte. Er wollte nur noch diese eine leere Pizzaschachtel ausnehmen, die er mühsam aus dem Müll gegraben hatte, und dann nach Hause gehen.
Er hob die Pizzaschachtel hoch, und dann sah er ihn. Da lag er direkt vor ihm, noch halb von Dreck zugedeckt, und glitzerte in der Abendsonne.
Paco liess die Pizzaschachtel fallen und beugte sich runter zu ihm. Vorsichtig entfernte er den Dreck um ihn herum. Dann hob er ihn langsam hoch.
Er war etwa so gross wie Pacos Unterarm, dafür aber ziemlich schwer. Paco betrachtete ihn voller Staunen.
Er war ganz aus Metall und stand auf einem Sockel aus Ebenholz. Mit seinen Händen umfasste er einen Stock, den er seitlich hochhielt, als würde er damit etwas erschlagen wollen. Neben ihm lehnte ein grosser Sack.
Auf dem Sockel aus Ebenholz war eine bronzene Plakette angebracht. Darauf stand geschrieben:
INTERNATIONALES GOLFTURNIER
SANTA MARIA DEL MAR 2005
3. PLATZ
Es war die Trophäe für den dritten Platz eines Golfturniers, in Bronze gegossen. Sie stellte einen Golfspieler dar, wie er seinen Golfschläger hochhob und damit zum Schlag ansetzte. Neben ihm lehnte der Köcher mit den Golfschlägern.
Paco wusste nichts von Golf. Auch hatte er nie Lesen und Schreiben gelernt. Der einzige, den er kannte, der Lesen und Schreiben konnte, war Manolo, und Manolo war tot.
Für Paco war das kein Golfspieler. Eindeutig und unwiderruflich war das der Gott der Müllmenschen, den Stock in den Händen haltend, mit dem er im Abfall herumwühlte, und neben sich den Plastiksack gelehnt, worin er seine Beute verstaute. Anmutig stand er auf dem Sockel aus edlem Ebenholz und holte mit seinem Stock gerade zum Schlag aus, um eine Ratte zu erschlagen, genauso, wie es auch Paco schon so manches Mal getan hatte.
Es war eindeutig sein Gott, nicht so armselig und so schwach wie jener merkwürdige Kerl im Waisenhaus, den man ans Kreuz genagelt hatte, nachdem die Leute von seinem Fleisch gegessen und von seinem Blut getrunken hatten und für welchen Paco seine Niere hergeben musste und Esmeralda gar ihr Auge.
Paco wickelte die Golftrophäe in ein altes Hemd und legte sie zwischen die Kleiderfetzen und die tote Ratte in seinen Plastiksack. Dann eilte er nach Hause.
Als er ankam, war Esmeralda noch nicht da. Er wickelte die Trophäe aus dem Hemd und säuberte sie vorsichtig von allen Seiten. An manchen Stellen war das Metall grün angelaufen.
Paco tauchte das Hemd in die Schale mit Essig, womit Esmeralda manchmal ihre Augenhöhle wusch, wenn sie entzündet war. Mit dem essiggetränkten Lappen liess sich der Grünspan problemlos entfernen.
Dann stellte er die Golftrophäe in die Nische in der Kirchenmauer, wo normalerweise eine Kerze stand. Links und rechts von der Trophäe stellte er nun zwei Kerzen auf und zündete sie an.
Der Anblick war überwältigend.
Der Golfspieler aus Bronze leuchtete auf, das Kerzenlicht funkelte auf seiner metallenen Oberfläche, und das Loch in der Kirchenmauer verwandelte sich in einen heiligen Schrein, worin der Gott der Müllmenschen thronte.
Als Esmeralda nach Hause kam, sah sie Paco vor dem Schrein knien.
„Was ist denn das?“, fragte sie voller Staunen.
„Das ist unser Gott“, sagte Paco mit ruhiger Stimme.
“Er ist stark und mächtig, und er wird uns beschützen.“
Esmeralda war beeindruckt. Sie kniete sich neben Paco und sagte:
„Mein Gott, der ist aber schön.“
Am nächsten Morgen, noch bevor Paco aufgewacht war, kam Rodrigo zu ihrer Hütte und nahm Esmeralda mit sich.
Als Paco aufwachte, stand die Sonne schon weit oben am Himmel. Er hatte geträumt. Wieder war es dieser Traum mit den rosaroten Hunden in Ruderbooten. Doch diesmal war es nur ein einziger Hund, und diesmal ruderte er nicht um die Wette, sondern glitt langsam auf einem ruhigen See dahin.
Paco zündete die Kerzen in der Nische an. Dann kniete er sich vor den Golfspieler, faltete die Hände und sprach:
„Herr, bitte beschütze Esmeralda, so dass ihr nichts passiert, und mach, dass Rodrigo die Hoden abfallen.“
Er blies die Kerzen wieder aus, griff nach seinem Stock und dem Plastiksack und machte sich auf den Weg zu den Müllkippen.
Der Tag verging schnell für Paco. Obwohl er spät angefangen hatte, machte er heute einen guten Fang, und als der Abend anbrach, war sein Plastiksack prall gefüllt mit Blechdosen und einigen recht gut erhaltenen Kleidungsstücken.
Zudem fand er ein zusammengehörendes Paar fast neuwertiger Turnschuhe, was so gut wie nie vorkam. Normalerweise fand man einen Schuh, doch sehr selten auch den zweiten, der dazugehörte.
Für einen Einzelschuh zahlte der Schuhhändler nicht mehr als zehn Centavos. Wenn man ihm aber ein komplettes Paar anbieten konnte, gab er einem dafür bis zu zwei Pesos, je nachdem, in welchem Zustand sie waren.
Diese Turnschuhe würde Paco aber nicht verkaufen. Es war genau seine Grösse, und sie passten ihm wie angegossen. Noch auf der Müllkippe wechselte Paco seine zerrissenen alten Schuhe gegen die neuen aus.
Sie fühlten sich gut an.
Seine alten Schuhe überliess er einem der neuen Jungen von San Guillermo, der bisher barfuss auf den Müllkippen herumgelaufen war.
Beim Heimweg streifte Paco den Bolzplatz, wo San Guillermos Fussballmannschaft trainierte. Ein verirrter Ball landete vor seinen Füssen.
«Hola Chico, wirf den Ball rüber», riefen ihm die Spieler zu. Paco legte seinen Beutel ab, nahm Anlauf, und mit seinem neuen Schuhwerk versetzte er dem Ball einen mächtigen Tritt, sodass er Richtung Tor sauste. Der Torwart hechtete in die linke Ecke, wo der Ball einzuschlagen drohte, konnte ihn mit den Fingerspitzen ablenken, sodass der Ball nicht im Netz landete, sondern am Pfosten, dort abprallte und den Hinterkopf des Torwarts traf und von dort im Netz landete.
Die Spieler applaudierten.
«Chico, komm und spiel mit uns.»
«Vielleicht morgen», antwortete Paco, nahm seinen Beutel und setzte seinen Heimweg fort.
Nachdem Paco seine Tagesbeute in Geld umgesetzt hatte, ging er zur Hütte von Rodrigo, um ihm wie üblich den Fünftel davon auszuzahlen.
„Ist schon gut, Junge“, sagte Rodrigo.
Rodrigo lag im Bett und sah nicht gesund aus.
„Deine Schulden sind beglichen worden. Du brauchst mir nichts mehr zu zahlen.“
Paco war erstaunt.
„Wer hat denn für mich bezahlt?“, wollte er wissen.
„Esmeralda“, sagte Rodrigo.
Das überraschte Paco noch mehr. Woher hatte Esmeralda so viel Geld, um all seine Schulden auszugleichen? Er konnte sich das kaum vorstellen. Trotzdem fühlte er sich heute zum ersten Mal wie ein freier Mensch. Er hatte keine Schulden mehr, und er hatte neue Schuhe. Und das fühlte sich gut an.
Rodrigo auf dem Bett liegend schloss seine Augen und starb.
Esmeralda war bereits zuhause, als Paco bei der Hütte an der Kirchenmauer ankam. Sie machte gerade ihre Behausung unter dem Kartondach sauber und summte dabei ein fröhliches Lied.
„Du bist schon da? Was ist denn passiert?“, fragte er sie.
„Ich weiss auch nicht so recht“, sagte sie.
„Ich war mit Rodrigo unterwegs in der Stadt, da kam uns so ein merkwürdiger Mann entgegen. Seine Haut war dunkelbraun, fast schwarz, wie aus Schokolade. So einen schwarzen Mann habe ich noch nicht gesehen. Der Schokoladenmann kam uns auf der Strasse entgegen, und er sah mich an und lächelte. Rodrigo sah ihn nicht, denn er hielt mich am Arm fest und wollte sich gleichzeitig eine Zigarette anzünden, und als wir am Schokoladenmann vorbeigehen wollten, da stiess er mit Rodrigo zusammen. Der Schokoladenmann entschuldigte sich dann auch sofort und ging gleich weiter. Doch plötzlich schrie Emilio auf und brach zusammen. Er wälzte sich am Boden und krümmte sich vor Schmerz, und im Schritt wurde seine weisse Hose ganz rot von Blut. Und wie er sich da am Boden wälzte, da fiel aus seiner Manteltasche ein grosses Bündel Geldscheine heraus.“
Esmeralda hielt ihm ein grosses Bündel Geldscheine entgegen, soviel Geld, wie es Paco noch nie in seinem Leben gesehen hatte.
Für Paco war jetzt alles sonnenklar.
„Weisst du was?“, sagte er zu Esmeralda, „Das macht alles er.“
Paco deutete auf die Nische in der Kirchenmauer, wo die Trophäe mit dem Golfspieler stand.
        „Er erfüllt uns jeden Wunsch.“
„Glaubst du wirklich?“
Paco zündete die Kerzen an, die zu beiden Seiten der Bronzefigur standen, und erneut erstrahlte der Gott der Müllmenschen in einem hellen, funkelnden Licht.
Paco und Esmeralda knieten vor den Schrein in der Kirchenmauer nieder und betrachteten den glitzernden Golfspieler.
        „Sag, was hättest du am liebsten, Esmeralda, was wünscht du dir am meisten?“
        Esmeralda überlegte nicht lange.
        „Ich will mein Auge wiederhaben“, sagte sie.
Der folgende Tag war ein Feiertag. Es war die Fiesta des Heiligen Guillermo, dem Schutzheiligen der Stadt. Die Innenstadt war für den Verkehr gesperrt, denn durch die Strassen zogen lange Prozessionen, angeführt von der Statue des Heiligen Guillermo, die auf einem hölzernen Wagen stand und von einem kräftigen Wasserbüffel gezogen wurde.
So musste der Verkehr, der aus den besseren Bezirken der Stadt in Richtung Flughafen führte, über das Viertel von San Guillermo umgeleitet werden.
Bereits am frühen Morgen war die enge Strasse bei der Kirche von San Guillermo voller Autos. Die Kolonne bewegte sich nur schleppend vorwärts, und die Autos hupten unentwegt.
Für die Bewohner von San Guillermo war das ein seltenes Schauspiel. Alle steckten ihre Köpfe aus ihren Hütten und schauten diesem Spektakel staunend zu. So auch Paco und Esmeralda, die durch das Getöse und Gehupe gleich neben ihrer Behausung früh aus dem Schlaf gerissen wurden.
Zu diesem Zeitpunkt war auch ein weisser Krankenwagen unterwegs zum Flughafen. Er hatte es sehr eilig. Er musste ein Flugzeug erwischen, das ins Gringo-Land flog. Der Krankenwagen hatte leicht verderbliche Ware an Bord, die dorthin bestellt war.
Als der Fahrer des Krankenwagens die lange Kolonne vor sich sah, liess er seine Sirene aufheulen und schaltete das Blaulicht ein. Er gab Gas und wollte die Kolonne links überholen. Dabei streifte er den Stand des Schuhhändlers, der direkt an der Strasse lag.
Der Krankenwagen kam ins Schleudern und kippte zur Seite. Überall flogen alte Schuhe durch die Luft. Als der Krankenwagen umkippte, sprang seine Hecktüre auf, und herausgeschleudert wurden Kühlboxen, die auf dem Asphalt zerbarsten und ihren Inhalt auf die Strasse ergossen.
Zwischen den Autos auf der Strasse lagen überall Haufen von Eisstücken, und dazwischen Nieren, Lebern und Herzen.
Streunende Hunde liefen auf der Strasse umher, fassten sich eine Leber, eine Niere oder ein Herz und verschwanden damit zwischen den Hütten.
Zwei Hunde mit weissem Fell stritten sich um ein Herz. Beide hatten sich darin festgebissen und keiner wollte loslassen. Sie wälzten sich in den Eishaufen auf der Strasse und kämpften verbissen um das Herz, und ihr Fell war ganz verschmiert vom tauenden Eis und dem Blut des Herzens, um welches sich die Hunde balgten. Ihr Fell wurde davon rosarot.
Eine kleine Schachtel kam direkt vor Pacos und Esmeraldas Behausung zum Liegen. Beim Aufprall auf den harten Asphalt war sie als einzige heil geblieben. Paco hob sie auf und öffnete sie. Verwundert betrachtete er den Inhalt der Schachtel.
Darin lag, eingebettet in eine Schicht von fein zerriebenem Eis, ein grünes Auge.
„Schau, das ist für dich“, sagte er zu Esmeralda und reichte ihr die Schachtel, und zum ersten Mal sah Paco, dass Esmeralda lächelte.
„Und was wollen wir uns als Nächstes wünschen?“, fragte sie.
Kapitel 9
Déjà-vu
                                                   Einen schlechten Scherz kann man aufbessern, indem man ihn ständig wiederholt“.                  
                                                    (Weibels Clownschule, Band 3)           
Es gab nichts, aber überhaupt gar nichts, was Josef Schmid nicht über Pilze gewusst hätte. Pilze waren seine grosse Leidenschaft, und das schon von klein auf. Diese Leidenschaft hatte er von seinem Vater geerbt, und früher, als Josef noch ein kleiner Junge war, durchstreifte er täglich mit seinem Vater die umliegenden Wälder, und sein Vater brachte ihm die ersten wichtigen Dinge über Pilze bei.
Von ihm hatte er gelernt, die schmackhaften Speisepilze von denen zu unterscheiden, die man lieber liegen lassen sollte. Er lernte ihre bevorzugten Standorte und den Ort die Zeit ihres Auftretens kennen. Er lernte ihre klangvollen Namen, wie zum Beispiel „Gedrungener Wulstling“, „Sparriger Schüppling“, „Goldgelber Zitterling“, „Grubiger Schleimrübling“, und später, als er bereits eine eigene Sammlung von Pilzbüchern hatte, auch deren lateinische Bezeichnungen.
Gerne hätte Josef Botanik oder Mykologie studiert. Das liessen aber seine mittelmässigen schulischen Leistungen und der eher tiefe Lebensstandard seiner Familie nicht zu. So absolvierte er nach der Schule eine Lehre als Schlosser und arbeitete fortan in einem kleinen Betrieb am unteren Ende des Städtchens.
Er hatte früh geheiratet. Mit seiner Frau zusammen bezog er ein kleines Haus am Stadtrand, nahe der bewaldeten Hügel. Doch seine Frau, damals eine bekannte Dorfschönheit, verliess ihn bald wieder.
„Ich kann nicht mit jemandem zusammenleben, dem ein Semmelstoppelpilz mehr bedeutet als ich“, hatte sie damals gesagt, als sie ihre Koffer packte. Seitdem hatte er sie nie mehr gesehen. Man sagt, sie hätte sich zwei bekannten Kunstfurzern angeschlossen, die damals gerade in der Stadt gastierten, und sei mit ihnen weitergezogen. Andere Quellen besagen, sie hätte sich dem ältesten Gewerbe der Welt ergeben. – Wie auch immer, schliesslich gibt es ja unendlich viele Universen, und in jedem von ihnen ist jeder von uns ein bisschen anders, gell?
Josef vermisste sie nicht besonders, denn seine gesamte Freizeit widmete er den Pilzen. Er stöberte in den nahegelegenen Wäldern, las Bücher und wissenschaftliche Magazine, die sich mit Mykologie befassten, und seinen gesamten Urlaub opferte kleinen Expeditionen, um die Wälder anderer Länder zu durchforschen.
Für den gewöhnlichen Pilzsammler beginnt das Jahr frühestens im April, wenn die ersten Morcheln zu finden sind. Später kommt der Mairitterling und das Stockschwämmchen hinzu, und ab Mitte Juni geht die Saison erst so richtig los. Sie endet dann spätestens im Oktober mit der Suche nach Nebelgrauen Trichterlingen oder Austernseitlingen.
Nicht so bei Josef. Das ganze Jahr hindurch stand er kurz vor Sonnenaufgang auf, um vor seinem Arbeitsbeginn um acht noch etwas Zeit im Wald verbringen zu können. Und Josef fand manchmal sogar im tiefsten Winter, wenn der Waldboden nicht ganz schneebedeckt oder zugefroren war, wundervolle Exemplare von Trompetenschnitzlingen, Kelchbecherlingen, Gezonten Ohrlappenpilzen oder Winterschüpplingen.
Natürlich ass Josef nicht all das an Pilzen, was er im Wald und auf Wiesen und Lichtungen fand. Eigentlich liess er das meiste davon stehen, und wenn er etwas mitnahm, dann nicht, um sich daraus eine Mahlzeit zu bereiten, sondern um es zu Hause näher zu untersuchen.
Er hatte sich im Keller ein kleines Laboratorium eingerichtet. Dort standen Mikroskope, Exsikkatoren und reihenweise Reagenzien und Chemikalien, die er für die Bestimmung und Untersuchung seiner Funde benötigte. Die erlesensten und seltensten Exemplare pflegte er in Formalin gefüllten Einmachgläsern zu konservieren, und so entstand mit der Zeit eine umfangreiche Sammlung der merkwürdigsten Pilze in seinem Keller.
Nur dann, wenn Josef etwas besonders Delikates und Edles fand, bereitete er daraus eine Mahlzeit vor. Das war nicht sehr oft der Fall, obwohl die Wälder ringsherum sehr reichhaltig waren an Steinpilzen, Pfifferlingen und Maronenröhrlingen. Doch diese allgemein hochgeschätzten Speisepilze waren für Josef nicht von wesentlichem Interesse.
Ausserdem wusste er, dass häufiges Essen von Pilzen ungesund war. Nicht nur, dass Pilze aus dem Waldboden grosse Mengen an Schwermetallen anreichern können und ausserdem seit dem Reaktorunfall in Tschernobyl auch deren radioaktive Isotope. Sie haben auch so gut wie keinen Nährwert. Zu 90 bis 95 Prozent bestehen sie aus Wasser. Das meiste vom Rest ist Chitin. Daraus sind die Zellwände der höheren Pilze gebaut.
Chitin ist ein stickstoffhaltiges Kohlenhydrat, ähnlich im Aufbau wie die Zellulose oder Stärke. Ausser in Pilzen kommt es in den Panzerungen von Gliederfüsslern und Insekten vor. Im Gegensatz zur Stärke widersteht Chitin jedoch den menschlichen Magen- und Darmsäften und ist somit nicht verdaubar. Schnecken, Insekten und anderes Geviech vermögen Chitin aber wunderbar zu verdauen. Der Genuss von Pilzen ist für den Menschen höchstens ein elitäres, kulinarisches Vergnügen, dient aber nicht wirklich der Ernährung.
In seinem Keller hatte sich Josef nebst dem Labor und der Präparate Sammlung auch eine kleine Zuchtfarm aufgebaut. Was er dort kultivierte, waren sogenannte „Magic Mushrooms“, hierzulande auch als Psilocybin Pilze bekannt. Dies sind kleine, sehr unscheinbare Pilzchen, die man manchmal draussen in den Wiesen, wo die Kühe weiden, entdecken kann. Manche von ihnen wachsen auf Kuhfläden.
Der bekannteste und wirkungsvollste von ihnen ist der „Spitzkegelige Kahlkopf“ oder auch „Psilocybe semilanceata“ genannt.
Solche magischen Pilze sind auch in vielen indianischen und asiatischen Kulturen bekannt und werden dort zu rituellen Handlungen benutzt. Unter dem Einfluss ihrer halluzinogenen Wirkung nehmen die Schamanen Kontakt zur Geisterwelt auf, treffen ihre verstorbenen Ahnen und fragen sie um Rat. Mit ihrer Hilfe können sie Krankheiten heilen, böse Geister vertreiben oder den Erfolg der nächsten Ernte voraussagen, und Josef erlaubt sich gelegentlich, damit eine kleine Reise zu unternehmen.
Im Alter von vierzig Jahren wurde Josef Schmid vom Gemeindevorstand zum Pilzkontrolleur ernannt. Das Sammeln von Pilzen war damals eine allgemein beliebte Tätigkeit. Da es aber immer wieder zu Verwechslungen und damit auch zu Vergiftungen kam, hatte jeder umliegende Bezirk einen Pilzkontrolleur, bei dem die Pilzsammler ihre Funde inspizieren lassen konnten.
Die meisten Pilzvergiftungen gehen auf das Konto des Grünen Knollenblätterpilzes, der von unkundigen Pilzsammlern leicht mit dem schmackhaften Schafchampignon verwechselt werden kann. Das Fatale am Grünen Knollenblätterpilz ist die Tatsache, dass auch er recht gut schmeckt, und dass die ersten Vergiftungssymptome erst bis zu 24 Stunden nach dem Genuss des Pilzes eintreten, wenn die inneren Organe des Opfers bereits vom Pilzgift angegriffen sind. Oft hilft dem Opfer nur noch eine Nierentransplantation, oder es ist ein Leben lang an ein Dialysegerät angewiesen. Manchmal ist auch beides zu spät.
Als Josef Schmid zum Pilzkontrolleur ernannt wurde, richtete er sich im Garten seines Hauses eine Kontrollstation ein. Das war nichts weiter als ein kleiner Gartentisch und ein Komposthaufen. Weiter brauchte er nichts für seine Arbeit.
Die Pilzsammler kamen mit ihren Funden zu Josefs Haus, leerten die Körbe und Taschen auf dem Gartentisch aus, und dann begann Josef mit seiner Arbeit.
Sie bestand darin, die ungeniessbaren Pilze von den geniessbaren zu trennen und diese dann in den Komposthaufen zu werfen. Zu jedem Pilz hatte Josef aber eine Menge interessanter Details zu erzählen. Er konnte seinen Kunden die besten Zubereitungsarten empfehlen, unterhielt sie mit witzigen Anekdoten aus der Welt der Pilzkunde, und manchen von ihnen, die ihm einigermassen vertrauenswürdig erschienen, verriet er sogar die besten Fundplätze der umliegenden Wälder.
Wenn Josef gerade Zeit hatte und ihm ein Kunde besonders sympathisch erschien, dann führte er ihm seine Pilzsammlung im Keller vor. Die Leute staunten jedes Mal, wenn sie die langen Reihen von Einmachgläsern betrachteten, in denen die merkwürdigsten Pilze schwammen und aussahen wie anatomische Präparate. Seine Führungen endeten meistens in einem kleinen, fensterlosen Raum des Kellers, wo unter einer matten Lampe ein kleines Zwergbäumchen stand.
„Ich wusste nicht, dass Sie sich auch mit Bonsais befassen, Herr Schmid“, staunte dann der Besucher und war ratlos.
„Ach, der blöde Baum ist auch nicht weiter von Bedeutung“, antwortete Josef, „er dient nur dem Pilz darunter als Wirt.“
Dann erkannte der Besucher neben dem Bonsai im Blumentopf einen kleinen, unscheinbaren Pilz.
„Das ist ein Japanischer „Moonlight Mushroom“, sagte dann Josef mit ehrfurchtsvoller Stimme und drehte das Licht aus. Und im Dunkeln sah der Besucher staunend, wie der Pilz ein intensives, grünes Licht ausstrahlt.
„Phosphoreszierende Pilze sind keine Seltenheit in den Tropen“,
erklärte Josef dem faszinierten Besucher,
„doch ob es diesen Japanischen Moonlight Mushroom bereits vor dem Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki gegeben hat, kann nicht mit Sicherheit nachgewiesen werden. Jedenfalls gibt es auch in Indonesien Leuchtpilze, und junge Mädchen stecken sich dort solche Pilze ins Haar, um nachts attraktiv auszusehen.
Und wenn Sie sich hierzulande einmal im Herbst des Nachts in den Wald trauen würden, dann könnten Sie auf ein Holzstück stossen, das grün leuchtet. Das ist der Hallimasch. Bei ihm leuchtet aber nicht der Fruchtkörper, sondern sein Mycel. Ein mit dem Hallimasch befallener Baumstamm kann ein derart intensives Licht ausstrahlen, dass frühere nordische Völker damit ihre Waldwege säumten und sich somit gewissermassen eine Art von biologischer Strassenbeleuchtung schufen.
Übrigens verdankt der Hallimasch seinen lustigen Namen einer ganz anderen Eigenschaft. Er wirkt wie ein natürliches Abführmittel, vor allem dann, wenn man ihn vor dem Verzehr nicht ausreichend auskocht. Die aus Österreichs Alpen stammende Bezeichnung dieses Schwammerls bedeutet nichts anderes als ‘Heil im Arsch’.“
Mit solchen Erzählungen konnte Josef Schmid seine Besucher stundenlang fesseln, und wenn sie ihn verliessen, dann waren sie überwältigt von der Fülle der faszinierenden Eindrücke, die sie von Josef mitnahmen.
Was Josef aber manchmal ganz wütend machen konnte, waren Leute, die mit Plastiksäcken voller Pilze zu ihm kamen. So wie zum Beispiel ein kleiner Südamerikaner namens Paco. Vielleicht war er auch Portugiese, Josef wusste es nicht, und es interessierte ihn auch nicht. Er hatte keine Vorbehalte gegen Ausländer, doch dieser kleine Latino machte ihn einfach wütend.
Schon Dutzende Male hatte ihm Josef zu erklären versucht, dass Pilze Platz zum Atmen brauchen, und dass sie, eingepfercht und transportiert in einem Plastiksack, zu einer matschigen Masse verkleben.
Doch jedes Mal kommt dieser Kerl mit einem grossen, vollgestopften Plastiksack in seinen Garten, kippt die klebrige Pilzmasse auf den Gartentisch und grinst ihn blöde an.
„Warum nehmen Sie nicht einen Korb oder zumindest eine Einkaufstasche aus Papier zum Pilze sammeln?“, knurrte ihn Josef jedes Mal böse an.
„Plastiksack gratis, kann man waschen nachher“, antwortete ihm Paco darauf und grinste blöde.
Und dann hatte Josef die grösste Mühe, die Masse aus zusammengeklebten Pilzen, angereichert mit der gesamten Waldflora und Fauna, bestehend aus Moos, Gras, Blättern, Schnecken, Maden, Würmern und Insekten zu entwirren. Die einzelnen Pilze waren danach in einem solch desolaten Zustand, dass es schwierig war, sie eindeutig zu identifizieren.
„Nächstes Mal können Sie gleich Kraut und Rüben mitbringen“, meinte dann Josef leicht resigniert.
In seiner Arbeit als Pilzkontrolleur konnte sich Josef voll entfalten. Die Bezahlung war zwar nicht besonders gut, doch das war ihm nicht wichtig. Viel wichtiger war ihm, dass er sich nun vollends seiner Leidenschaft widmen konnte, und so hing er seinen Beruf als Schlosser an den Nagel.
Er begann damit, wissenschaftliche Abhandlungen zu verfassen, führte intensive Korrespondenz mit Fachkollegen aus aller Welt und veröffentlichte manchmal wichtige Beiträge zur Problematik der Pilzkunde in bedeutenden Fachblättern. Bald machte er sich einen Namen als kompetenter Experte in der Welt der Mykologie. Und weiterhin durchstreifte er jeden Morgen die Wälder auf der Suche nach besonderen Fundstücken, und nachmittags stand er seinen Kunden als zuverlässiger Pilzkontrolleur zur Verfügung.
Doch in dieser Funktion hatte Josef auch gesellschaftliche Aufgaben zu erfüllen. So wurde ihm nahegelegt, dem kantonalen Verband der Pilzfreunde beizutreten, was ihm nicht so leicht fiel, denn Josef war ein ausgesprochener Einzelgänger und fühlte sich in Gesellschaften meistens etwas fehl am Platz.
Obwohl Josef weitaus mehr Sachverstand und Wissen besass als alle andern Mitglieder des kantonalen Verbandes der Pilzfreunde, drängte er sich bei den monatlichen Versammlungen nie auf und versuchte, möglichst im Hintergrund zu bleiben. Zwar liess er sich hin und wieder überreden, eine fachkundige Führung durch die örtlichen Wälder zu leiten, doch das höchste Amt, das ihm bei den monatlichen Versammlungen des Verbandes jemals zugetragen wurde, war das eines Stimmenzählers.
Der Präsident des kantonalen Verbandes der Pilzfreunde war ein äusserst unauffälliger und unscheinbarer Mann namens Vladimir Sikorsky. Sikorsky war von mittlerem Alter und mittlerer Statur und verfügte auch sonst über absolut keine besonderen äusseren Merkmale. Alles Äussere an ihm schien absolut gewöhnlich, beinahe augenfällig durchschnittlich, gar verdächtig mittelmässig zu sein. Er galt als ziemlich farblos und fad, doch ansonsten war er sehr korrekt, und wahrscheinlich war er gerade deshalb zum Präsidenten des Vereins gewählt worden.
Vladimir Sikorsky bewunderte Josefs Fachwissen. Er war Lehrer für Biologie am kantonalen Gymnasium, doch er musste sich zugestehen, dass seine Kenntnisse in Mykologie bei Weitem nicht an die von Josef heran reichten. Das störte ihn nicht, denn Sikorsky hatte ein anderes heimliches Steckenpferd: Die Zeit.
„Warum kommen Sie nicht morgen Abend zum Essen vorbei?“, hatte Sikorsky nach einer Versammlung des Verbandes der Pilzfreunde zu Josef gesagt.
„Meine Frau kennt einige köstliche Pilzrezepte.“
Josef konnte ihm das nicht abschlagen.
„Ja, natürlich, mit Vergnügen“, sagte Josef und war nicht sonderlich begeistert.
„Schön, schön! Dann morgen so gegen acht, wenn Ihnen das recht ist. Sie kennen meine Adresse?“
Die Sikorskys bewohnten ein schlichtes Haus in einer Reihensiedlung am anderen Rand der Stadt, wo Vladimir am Gymnasium als Biologielehrer tätig war.
Als Josef am nächsten Abend dort anklopfte, machte ein kleines, etwa zehnjähriges Mädchen die Türe auf.
„Bist du der Pilzkontrolleur?“, fragte sie und lutschte dabei an einem Zuckerstengel.
Noch bevor Josef darauf eine Antwort geben konnte, traf ihn von hinten ein Basketball am Kopf.
„Aber Sebastian, du weisst doch, dass man so etwas nicht machen darf, gell?“ ertönte von drinnen eine Frauenstimme.
„Sie müssen der Herr Schmid sein, nicht wahr? Kommen Sie doch herein und seinen Sie uns willkommen“, begrüsste ihn Frau Sikorsky.
Sie kam aus der Wohnung herausgeeilt und schüttelte Josef die Hand.
„Guten Abend, Frau Sikorsky“, sagte Josef und fasste sich an den Hinterkopf, wo ihn der Ball getroffen hatte.
„Barbara. Nennen Sie mich doch einfach Barbara.“
„Ja, guten Abend, Barbara.“
„Sebastian, sag guten Abend zu Herrn Schmid, und vielleicht magst du dich bei ihm entschuldigen, gell?“, sagte Barbara.
Hinter Josef stand ein kleiner Junge, etwa acht Jahre alt, und hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben. Er sagte kein Wort und schaute schmollend in die Luft.
„Und unsere Deborah haben Sie ja schon kennen gelernt, nicht wahr?“
„Ja, guten Abend Deborah. Ich bin der Pilzkontrolleur“, sagte Josef.
Deborah drehte eine Pirouette.
„Ich bin die Prinzessin Sissi, und mein Goldhamster ist der Zauberer Merlin“, sagte sie.
           „Ach, Josef, schön Sie zu sehen“, rief ihm Vladimir entgegen.
„Was wollen Sie trinken?“
           Der Abend fing eigentlich ganz angenehm an. Vor dem Essen sassen Josef und Vladimir bei einem Glas Whisky und unterhielten sich über eine neue Art von Riesentäubling, die kürzlich in Kamerun entdeckt wurde. Währenddessen hantierte Barbara in der Küche.
Vladimir vertrat die Ansicht, dass es sich bei der neuen Spezies um einen Verwandten des „Russula olivacea“ handeln müsse, doch Josef musste ihm widersprechen, da dessen Sporen nicht die typische Stachelung aufwiesen.
Gelegentlich wurde ihr Gespräch von der kleinen Deborah unterbrochen, die durch den Raum tanzte und vorgab, ein verzaubertes Pony zu sein, und hin und wieder kam ein Lego-Stein aus einer Ecke geflogen, wo der schmollende Sebastian sass, und traf Josef am Hinterkopf.
           Dann rief Barbara zum Essen.
Als Vorspeise servierte sie gebackene Flaschenstäublinge mit Gorgonzola-Füllung.
„Die meisten Leute lassen Stäublinge links liegen, da sie ihnen als Speisepilze nicht würdig erscheinen“, kommentierte Vladimir, während sie am Tisch sassen und assen.
„Doch gebacken oder frittiert sind sie einfach köstlich.“
Josef stimmte ihm zu. Er hätte zwar gerne gesagt, dass der leichte Beigeschmack nach Urin hätte entfernt werden können, wenn man die Stäublinge vor dem Backen eine halbe Stunde in Milch eingelegt hätte, doch er schwieg.
Dann traf ihn ein gebackener Flaschenstäubling am Kopf.
„Pilze sind Scheisse“, sagte Sebastian, der Josef gegenübersass und gelangweilt mit der Gabel zwischen seinen Pilzen im Teller herumstocherte.
„Sebastian, du weisst doch genau, dass man so etwas nicht sagt, gell?“, sagte Barbara.
Inzwischen drehte Deborah neben dem Tisch eine Pirouette nach der andern und verkündete, sie sei eine verzauberte Prinzessin. Sebastian nahm einen gebackenen Flaschenstäubling auf die Gabel und schleuderte ihn gegen Josefs Kopf.
„Junger Mann, du gehst jetzt sofort auf dein Zimmer!“, rief Vladimir, der aufgestanden war und drohend Richtung Treppe zeigte.
Sebastian liess klirrend seine Gabel auf den Teller fallen, stand auf und ging langsam nach oben die Treppe hoch. Dabei brummte er: „Papa ist ein Arschloch“, doch alle taten so, als hätten sie es nicht gehört.
Als Hauptgericht servierte Barbara Kaninchenragout mit Steinpilzen. Das Ragout hatte einen leicht bitteren Nachgeschmack, und Josef war sich ziemlich sicher, dass ein Gallenröhrling sich zwischen die Steinpilze verirrt hatte.
Gallenröhrlinge sind als junge Fruchtkörper den Steinpilzen recht ähnlich, nur schmecken sie extrem bitter. Da sie aber nicht giftig sind, ass Josef gehorsam seinen Teller auf und lobte die Köchin. Er wollte den Abend nicht vollends verderben.
Dann passierte aber etwas Seltsames.
Als sie mit dem Essen fertig waren und Barbara in die Küche ging, um den Kaffee und das Dessert zu holen, blieben Josef und Vladimir am Tisch sitzen und setzten ihre Unterhaltung über den in Kamerun entdeckten Riesentäubling fort. Dabei griff Vladimir Sikorksy in die Obstschale und holte daraus eine Banane hervor.
Und plötzlich, mitten im Satz, verstummte er, und all seine Bewegungen verlangsamten sich. Er hielt die Banane zitternd in der linken Hand, während seine Rechte umständlich die Schale davon zu lösen versuchte. Sein Blick wurde glasig, und um seinen halboffenen Mund formte sich ein seltsames Lächeln.
„Vladimir? Herr Sikorsky, ist Ihnen nicht gut?“, fragte Josef verwundert.
Doch Sikorsky hörte ihn nicht. Als er endlich die Schale von der Banane gelöst hatte, führte er die Banane ganz langsam zu seinem offenen Mund und fing an, daran langsam und genüsslich herumzukauen, was scheinbar seine ganze Konzentration erforderte. Sein glasiger Blick deutete an, dass er irgendwo weit weg war.
Barbara kam mit dem Dessert-Tablett herein.
„Ach, Vladimir, nicht schon wieder!“
„Was ist denn mit ihm passiert?“, fragte Josef etwas ratlos.
Barbara seufzte.
„Beachten Sie es einfach nicht, Herr Schmid. Das hat er manchmal.“
Sie versuchte, das Weinen zu unterdrücken.
„Nehmen Sie Zucker in Ihren Kaffee?“
Josef erhob sich vom Tisch.
„Vielleicht ist es besser, wenn ich mich von Ihnen verabschiede, Barbara. Es ist schon ziemlich spät, und ich muss morgen früh zeitig raus.....eine Waldführung mit Pfadfindern, verstehen Sie?“
„Ja, vielleicht ist es besser so...“
„Kommen Sie zurecht, oder soll ich besser einen Arzt rufen?“
Barbara schluchzte, und die kleine Deborah tanzte um ihren Vater herum, der aber nichts davon wahrnahm, sondern nur mit seiner Banane beschäftigt war.
„Papa ist ein Arschloch, Papa ist ein Arschloch...“, sang sie.
Sie sassen an einem Tisch in der Kantine der psychiatrischen Klinik und unterhielten sich. Vladimir Sikorsky hatte bereits gegessen. Professor DiCugno kam gerade zum Nachtisch. Er hatte einen Kaffee und ein Erdbeertörtchen vor sich stehen.
Aus dem Lautsprecher rieselte leise, beruhigende Musik.
Schwester Inge kam an ihren Tisch.
„Ihre Zeitschrift ist gekommen, Herr Sikorsky.“
Sie reichte ihm eine zusammengerollte Zeitschrift.
„Danke schön.“
Sikorsky nahm die Zeitschrift und streifte das Gummiband von der Rolle. Es war die monatliche Ausgabe von „Der Pilzfreund“.
„Oh, ich habe ganz vergessen, Sie sind ja im Verein der Pilzfreunde tätig.“
„Ja, Pilze sind eine ganz aussergewöhnliche Gattung der Flora.“
Sikorsky betrachtete die Titelseite. Sie zeigte einen sehr hässlichen Pilz, der aus einem staubigen Boden herauswuchs. Neben dem Bild stand die Überschrift:
‚Neue Art von Riesentäubling in Kamerun entdeckt’.
„Kennen Sie das Gefühl, gerade eine Situation zu durchleben, die Sie schon mal erlebt hatten?“, fragte Sikorsky.
„Ein Déjà-vu?“
„Ja, so heisst das wohl.“
„Natürlich! Die meisten Menschen kennen solche Erlebnisse. Man steckt mitten in einer neuen Situation, und plötzlich, vielleicht nur für den Bruchteil einer Sekunde, glaubt man, diese Situation schon einmal erlebt zu haben. Man kann sich zwar nicht genau daran erinnern, wo und wann das war, vielleicht nur in einem Traum, manche Leute behaupten, in einem früheren Leben. Doch die Situation, obwohl neu und frisch erlebt, kommt einem so vertraut vor, dass man schwören könnte, sich daran zu erinnern.“
„Und wie erklären Sie sich das?“
„Nun, da gibt es einige Theorien. Einer Hypothese zufolge entsteht ein Déjà-vu in einer Situation, die an ein tatsächlich erlebtes Ereignis erinnert, welches jedoch vom Gedächtnis nur bruchstückhaft gespeichert wurde, weil es vielleicht nur eine schwache Erinnerung war, oder weil diese Erinnerung aus irgendwelchen Gründen verdrängt oder gar gelöscht wurde.
Trotzdem bleiben Fragmente davon im Hippocampus haften, und oft reicht dann nur ein leichter Anstoss, ein vertrauter Duft etwa, der im Mandelkern des Lobus Temporalis eine Resonanz erzeugt und das Gefühl des ‚schon mal erlebt’ hervorruft.“
„Ja, das klingt plausibel.“
„Eine andere Theorie besagt, verdrängte Fantasien seien Quelle von Déjà-vus. Das ist natürlich Unsinn. Ich persönlich glaube, es handelt sich dabei vielmehr um eine Überreizung des äusseren Schläfenlappens, wie sie häufig bei Epileptikern vorkommt. Angeblich geht der Begriff „Déjà-vu“ auf Napoleon zurück, der selbst an Epilepsie litt. Als er auf einem Hügel bei Jena stand, die Aufstellung seines Heers überblickte und im Morgendunst das feindliche Heer der Preussen kommen sah, soll ihn das Gefühl beschlichen haben, er habe genau diese Szene ohne Unterschied schon einmal gesehen.
Kurz vor einem epileptischen Anfall hat der Betroffene manchmal eine Vision von Klarheit und Reinheit, die ihm das Gefühl vermittelt, die Vergangenheit, die Gegenwart und auch die Zukunft als Einheit zu erkennen. Diesen Zustand nennt man die Aura. Dostojewski, auch ein Epileptiker, beschreibt diese Aura wunderbar in seinem Roman ‚Die Brüder Karamasow’.
Einen kurzen Moment lang erscheinen alle Dinge des Lebens so leuchtend klar, so unfassbar greifbar, dass das Gehirn einfach nicht in der Lage ist, diese Fülle an Informationen zu verarbeiten, und deshalb in einen Kollaps mündet. So wie der Absturz eines Computers, wenn der Prozessor überfordert ist, verstehen Sie?“
„Ja.“
„Doch scheinbar gibt es auch Epileptiker, die mit diesem Zustand ganz gut umzugehen vermögen. In vielen antiken Kulturen galt Epilepsie als ‚heilige Krankheit’, und Epileptiker wurden als Orakel oder Schamanen verehrt, die Kontakt zu göttlichen Mächten hatten oder in die Zukunft blicken konnten. So könnte ich mir auch durchaus vorstellen, dass Rudolf Steiners geheimnisvolle Akasha-Chronik nichts anders war als eine kontrollierte örtlichen Überreizung im Grosshirn.“
„Sie glauben, Steiner konnte tatsächlich die Vergangenheit und die Zukunft in seiner Akasha-Chronik lesen?“
„Nein, obwohl ich ihn für einen brillanten Geist halte. Seine Ansicht, Affen seien rückgebildete Menschen einer vergangenen Epoche, finde ich zumindest sehr amüsant. Doch dass er die Akasha-Chronik lesen konnte, das glaube ich kaum. Es war eher eine Täuschung seiner chronisch überreizten Sinne.“
„Trotzdem kann es vorkommen, dass man während eines Déjà-vus die Dinge vorauszusehen vermag. Zumindest hat man das Gefühl, wenn auch nur für den
Bruchteil einer Sekunde, dass man genau weiss, was in der nächsten Sekunde passieren wird.
Sie sitzen zum Beispiel im Wohnzimmer, lesen Zeitung, und plötzlich wissen Sie genau, in der nächsten Sekunde wird das Telefon klingeln und Tante Berta, von der sie seit zehn Jahren absolut nichts gehört haben, wird in der Leitung sein. Vielleicht wissen Sie sogar, was sie Ihnen sagen wird.
Und genau so passiert es dann auch. In der nächsten Sekunde läutet das Telefon, und Tante Berta ist in der Leitung und sagt, ihr Goldhamster sei gestorben. Können Sie mir das erklären?“
„Möglicherweise nur eine fehlerhafte Synchronisation zwischen Kurz- und Langzeitgedächtnis? Das passiert häufig nach Phasen grosser psychischer Belastung.“
„Nein, das halte ich für unwahrscheinlich. Woher kann das Kurzzeitgedächtnis oder das Langzeitgedächtnis wissen, dass etwas passiert, bevor es passiert?“
„Hm...schwer zu sagen...“
Professor DiCugno liebte es, sich mit Vladimir Sikorsky zu unterhalten. Obwohl er bei solchen Disputen meist in die Enge getrieben wurde, inspirierten sie ihn ungemein, und er nutzte jede sich bietende Gelegenheit, wenn sich Sikorsky in einer klaren Phase der Normalität zwischen zwei Anfällen befand, um sich mit diesem äusserlich unscheinbaren, jedoch ausserordentlich interessantemn Mann zu unterhalten, der bis vor Kurzem Biologielehrer am örtlichen Gymnasium war.
In letzter Zeit hatten sich die Betten der psychiatrischen Abteilung C12 mit sonderbaren Fällen gefüllt.
Da war beispielsweise dieser Tamal Mossiani, der alle Pfleger und Patienten mit seinem ununterbrochenen Gequatsche aufbrachte. Er litt offensichtlich an schweren paranoiden Wahnvorstellungen. Dauernd quasselte er irgendetwas über die Verschwörung des Bartholomäus-Ordens, der in Südamerika einen florierenden Handel mit menschlichen Organen führte. Ausserdem war er der festen Überzeugung, von ausserirdischen Bestien sexuell misshandelt worden zu sein. Seine Ausführungen gipfelten meistens in der Überzeugung, er sei der einzige Mensch, der wisse, wie man auf einer Gitarre einen Moll-Blues in Cis spielt und somit der Retter der Menschheit. Gab man ihm jedoch eine Gitarre, so ging er wutentbrannt auf das Instrument los und zertrat es, als wäre es ein lästiges Insekt. Dem Klinikpersonal blieb nichts anderes übrig, als Mossiani mit Medikamenten ruhig zu stellen.
Niemand wusste, wo dieser Mossiani herkam. Eines Tages war er einfach in der Klinik aufgetaucht und wollte nicht wieder weg. Es gab bis dahin keine Krankenakte von ihm, und es war auch nicht möglich, irgendwelche Dokumente oder Personalien von ihm aufzutreiben.
Die anderen, neu eingewiesenen Patienten stammen vorwiegend aus der Schicht des oberen Mittelstandes. Es waren ausschliesslich männliche Patienten, Manager, Geschäftsführer oder Geschäftsleute, die sich plötzlich in ihrer Umbebung nicht mehr zurechtfanden.
Da waren zu Beispiel drei Fälle, die unabhängig voneinander mit denselben Symptomen eingeliefert wurden. Alles, was sie taten, taten sie rückwärts. Es war, als ob man einen Film verkehrt herum laufen liesse. Sie liefen rückwärts, sprachen rückwärts und assen sogar rückwärts, was ein ekelhafter Anblick war. Es schien fast so, als ob die Zeit für sie rückwärts verlaufen würde. Sie waren nur dann zu verstehen, wenn man ihre Gespräche auf Tonband aufnahm und dieses Band danach rückwärts abspielte. So war die Kommunikation mit ihnen äusserst schwierig.
Untereinander schienen sie sich allerdings recht gut zu verstehen. Manchmal sassen sie stundenlang am Tisch des Aufenthaltsraumes, spielten eine merkwürdige Variante von „Mensch ärgere dich nicht“ und führten dabei anregende Gespräche, die sich für den Aussenstehenden anhörten wie eine chinesische Oper.
Ein weiterer Patient stieg jeden Morgen nach dem Aufwachen mit einem Blumenstrauss in der einen Hand und einer Klobürste in der anderen auf einen Tisch und streckte seine Arme in die Höhe. Er strahlte übers ganze Gesicht, als hätte er gerade die Tour de France gewonnen und winkte mit der Klobürste und dem Blumenstrauss einer imaginären, jubelnden Menge zu.
Freiwillig kam er da nicht runter. Er nahm von seiner Umgebung keine Notiz, und zerrte man ihn mit Gewalt vom Tisch runter, dann verfiel er sogleich in ein tiefes Koma und musste künstlich ernährt werden. Daher reichte man ihm jeden Morgen den Blumenstrauss und die Klobürste ans Bett, und dann wachte er auf, nahm den Blumenstrauss und die Klobürste in die Hände und stellte sich damit freudestrahlend auf den Tisch, um der jubelnden Menge zuzuwinken.
Doch der sonderbarste Patient von allen war dieser Sikorsky.
Vladimir Sikorsky wurde vor einigen Tagen von der Polizei hierher gebracht. Nach allem, was Professor DiCugno gehört hatte, wurde er in seiner Wohnung aufgefunden, wo er nackt an der Wohnzimmerdecke klebte, wie ein Gecko alle Viere von sich gestreckt, und mit seiner ungewöhnlich langen Zunge Fliegen fing. Darunter lag die Leiche seiner Frau. Sie muss übel zugerichtet gewesen sein, wie von einem Raubtier gerissen, wie man sich erzählte. Und in der Wohnung türmten sich leere Einmachgläser.
Sikorsky war absolut vernehmungsunfähig, und den Richtern fiel nichts Besseres ein, als ihn hierher auf die psychiatrische Station zu verweisen.
           Beim Fall von Sikorsky handelte es sich offenbar nicht um eine Schizophrenie im gewöhnlichen Sinn, so wie dies etwa bei Tamal Mossiani zu beobachten war. Mossianis paranoide Schübe waren ziemlich vorhersehbar und verliefen alle mehr oder weniger nach dem gleichen Muster.
Bei Sikorsky jedoch glich kein Anfall dem andern. Bei jedem neuerlichen Schub schien er sich in ein anderes Wesen zu verwandeln. Die Ärzte sprachen von einer ungewöhnlichen Art multipler Persönlichkeitsspaltung, welche in der Psychopathologie bisher noch nicht beschrieben war.
Zwischen solchen Schüben, bei denen er sich manchmal benahm wie eine Schildkröte, und all seine Bewegungen sehr langsam und schwerfällig wirkten, ein andermal wiederum geschwind wie ein kleines Mäuschen zwischen den Betten herumwirbelte, um sich dann mit einem Keks zwischen den Pfoten in eine Zimmerecke zu verstecken, war Sikorsky aber äusserst klar im Kopf. Das war ungewöhnlich, denn bei den meisten Schizophrenen treten in solchen Phasen Depressionen oder andere Sekundärsymptome auf. Doch bei Sikorsky war nichts davon zu beobachten.
Während ihres gesamten Gesprächs am Tisch in der Kantine der Klinik spielte Sikorsky mit dem Gummiband, das um die Zeitschrift „Der Pilzfreund“ gewickelt war. Nun nahm er es zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand und zog es auseinander.
„Stellen Sie sich vor, Professor, dieses Gummiband hier wäre die Zeit eines Menschen, oder von mir aus nennen Sie es seine persönliche Akasha-Chronik, wenn Ihnen das lieber ist.“
„Ja, und...?“
„Sie erlauben...?“
Sikorsky nahm den Löffel aus Professor DiCugnos Kaffeetasse.
„Dieser Löffel hier ist die Gegenwart.“
Sikorsky führet den Löffel zum Gummiband, so dass der Stiel des Löffels das Band zwischen seinem Daumen und Zeigefinger berührte.
„Und während sich das Zeitband stetig fortbewegt, gleitet es entlang des Löffels, der sanft am Gummiband haftet und die Gegenwart abtastet, wie der Tonkopf einer Tonbandmaschine.“
„Eine hübsche Vorstellung. Doch natürlich nur ein Modell.“
„Selbstverständlich nur eine Modellvorstellung. Doch nun passiert folgendes: Wird der Druck zwischen Gummiband und Löffel grösser, so entstehen Spannungen zwischen dem Zeitband und der Gegenwart. Nicht weiter schlimm, denn das Gummiband ist ja elastisch und kann diese Spannungen ausgleichen. Das einzige, was passiert, ist, dass die Gegenwart wegen der höheren Haftreibung etwas langsamer verläuft.“
„Natürlich!“
Professor DiCugno war leicht amüsiert von Sikorskys Demonstration.
„Kommen aber nun noch Torsionskräfte in Form von Turbulenzen hinzu, dann kann folgendes geschehen.“
Sikorsky drückte mit dem Löffel etwas fester ans Gummiband. Dann gab er dem Löffel einen kurzen Ruck, und das Gummiband wendete sich, so dass nun die Rückseite des Bandes den Löffelstiel berührte.
Professor DiCugno runzelte die Stirn.
„Wie Sie sehen, verläuft das Zeitband nun nicht mehr mit der Vorderseite entlang der Gegenwart, sondern mit der Rückseite.“
„Und was hat das zu bedeuten? Was ist an der Rückseite des Zeitbandes?“
„Sie kennen doch mit Sicherheit Menschen, die sich mit ihrer Umgebung nicht mehr zurecht finden...“
„Natürlich! Die meisten hier in der Klinik...“
‚Sie eingeschlossen’, hätte der Professor beinahe hinzugefügt, doch er dachte es nur und war verwundert, dass Sikorsky selbst dieses Thema aufgriff.
Sikorsky sah ihm eindringlich in die Augen.
„Schizophrenie, paranoide Psychosen, Wahnvorstellungen...So bezeichnen Sie doch diese Dinge hier in der Klinik.“
“Nun ja...“
Professor DiCugno wurde es unbehaglich. Er nahm sein Erdbeertörtchen vom Teller und führte es zum Mund.
„Doch könnten Sie sich vorstellen, dass es neben unserem Universum noch ein anderes gibt, gleich hier um die Ecke, nicht irgendwo weit draussen im Weltall, Lichtjahre entfernt?“
„Die Rückseite des Gummibandes?“
Der Professor schmunzelte.
„Richtig, die Rückseite des Gummibandes. Nun, wie Sie mit Sicherheit wissen, ist eine eindeutige Ursache für Schizophrenie bis heute nicht bekannt...“
„Oh, da gibt es einige biologische Faktoren, frühkindliche Hirnschädigungen durch Geburtskomplikationen etwa, oder eine Infektion des frontalen Kortex, die eine überhöhte Ausschüttung des Neurotransmitters Dopamin auslösen kann. Ausserdem gibt es eine eindeutige genetische Komponente. Das hat die Zwillingsforschung belegt.“, versuchte sich der Professor wieder in das Gespräch einzuschalten.
„Trotzdem sind es eindeutig psychosoziale Faktoren, die einen akuten Schub auslösen. Plötzliche Veränderung der Lebenssituation, Arbeitsplatzwechsel, Heirat oder einfach nur Stress.“
„Sie meinen, dies führt zu diesen Spannungen und Turbulenzen zwischen dem Gummiband und dem Löffel?“
„Und schlussendlich zum Umklappen des Bandes, ganz genau. Entspannt sich der Druck zwischen Löffel und Band wieder, etwa durch Medikamente oder einfach nur so, ganz natürlich, dann kommt die Gegenwart des Patienten wieder auf die Vorderseite des Bandes zuliegen.“
Sikorsky liess den Druck des Löffels am Gummiband etwas nach, und tatsächlich stülpte sich das Band wieder um, so dass wieder die Vorderseite den Löffelstiel berührte.
„Vielleicht ist das Gummiband als Modell nicht sehr verständlich. Doch gehen wir einfach mal in den Mikrokosmos der Quantenphysik und betrachten ein Elektron, das sich im äusseren Orbit um den Atomkern befindet. Führen wir nun Energie von Aussen in dieses stabile System, so springt dieses Elektron in eine andere Umlaufbahn, die sich weiter entfernt vom Atomkern befindet. Wird die Energie wieder entzogen, dann kommt auch das Elektron wieder an seinen ursprünglichen Platz zurück.“
„Ich verstehe nicht viel von Quantenphysik. Die Sache mit dem Gummiband erscheint mir allerdings sehr suspekt.“
„Die Dinge in der Quantenmechanik verhalten sich nicht anders, wie die Dinge in der sichtbaren Welt, und hier wie auch dort gibt es Parallel-Universen. Lichtteilchen etwa, sogenannte Photonen, sind beispielsweise in der Lage, sich zwischen solchen Welten zu bewegen.“
           „Wie sieht denn dieses Paralleluniversum aus auf der anderen Seite des Gummibandes?“
„Oh, das kann fast genau gleich aussehen, wie unser Universum, vielleicht nur mit einem kleinen, geringfügigen Unterschied. Vielleicht hat dort Tante Berta keinen Goldhamster, sondern einen Kanarienvogel. Wissen Sie, dieses Gummiband hat nur zwei Seiten. Doch das Zeitband hat mehrere.“
„Wie viele denn?“
„Unendlich viele...“
„Das sind viele...“
„Ja. Dies wäre allerdings kein Problem, denn entspannt man den Druck zwischen Zeitband und Gegenwart, kommt zumeist die ursprüngliche Seite des Bandes wieder in den Vordergrund, und der Mensch, der sich vorher in einem fremden Universum aufhielt und deswegen vielleicht etwas irritiert war, kann sich wieder in seiner vertrauten Umgebung zurechtfinden. Schneidet man das Band allerdings entzwei, dann wird es äusserst schwierig, es wieder richtig zusammen zu fügen.“
„Entzwei schneiden? Warum sollte man es entzweischneiden? Wer sollte das tun? Kann man es überhaupt entzweischneiden?“
Sikorsky schien die Fragen des Professors nicht zu hören. Er zog mit beiden Daumen das Gummiband auseinander, so dass es riss und mit einem Summen davon schleuderte.
Sikorskys Stimme wurde leiser. Seine Worte schienen zu kleben.
„Da ergeben sich ungeahnte Komplikationen, Interferenzen von Zeitbändern, Drehung der Gegenwartsabtastung, verwickelte Endlosschlaufen...“
Während Sikorsky mühsam diese Worte von sich gab, faltete er eine Papier-Serviette auseinander, legte sie an den Tischrand und riss einen langen, schmalen Streifen davon ab.
Professor DiCugno sah ihm dabei verwundert zu und nahm einen Bissen von seinem Erdbeertörtchen.
„Haben Sie etwas Klebeband und einen Stift?“, fragte Sikorsky.
Der Professor rief nach dem Klebeband, und Schwester Inge brachte ihm eine Rolle. Er reichte sie ihm zusammen mit seinem Kugelschreiber.
Sikorsky formte den Papierstreifen zu einem Kreis, wendete aber ein Ende des Streifens, bevor er beide Enden mit dem Klebeband verband. Er legte den zur Schlaufe geformten Streifen auf den Tisch und malte mit dem Stift eine Markierung daran. Von dieser Markierung her zog er langsam eine Linie entlang der gesamten Länge des Streifens, bis er mit dem Stift wieder zu seiner Markierung zurück kam. Dann reichte er den Papierstreifen dem Professor.
„Was soll ich damit?“
Fragend sah der Professor Sikorsky an.
Er bemerkte ein leises Zucken in Sikorsky Gesicht.
Sikorsky stülpte seine Oberlippe nach oben, und seine gelblichen Zähne wurden sichtbar. Zwischen den Zähnen stiess er bedrohlich klingende Laute hervor. Seine Augen funkelten.
Es war die Drohgebärde eines Schimpansen. Der Professor hatte das mal in einer Tiersendung gesehen, wo sich zwei männliche Schimpansen um ein Weibchen stritten.
Plötzlich stürzte Sikorsky über den Tisch, riss dem Professor das Erdbeertörtchen aus der Hand und sprang damit in einem unglaublichen Satz auf das Geschirr-Regal der Kantine. Dort stopfte er sich das Erdbeertörtchen in den Mund, bis er von zwei kräftigen Pflegern heruntergeholt wurde.
Während Sikorsky wie ein wütender Schimpanse schreiend und tobend von den Pflegern in sein Zimmer geführt wurde, nahm Professor DiCugno den Papiersteifen in die Hände. Er löste das Klebeband von den Enden und faltete das Band auseinander. Er sah die Markierung und die Linie, die Sikorsky darauf gemalt hatte. Die Linie führte von einem Ende des Streifens zur andern. Der Professor wendete den Streifen. Verwundert sah er, dass die Linie auch an der Rückseite des Streifens entlang führte, von einem Ende zum andern.
„Déjà-vu?“, schoss es ihm durch den Kopf.
 
Kapitel 10
Der Pilzkontrolleur
                                                                      „Ist das Leben nicht wunderbar?
                                                                       Im Radio läuft ein Violinkonzert vom Bach,
                                                                       auf dem Espresso schwimmt ein haselnussbraunes Schäumchen,
                                                                       und der Löffel ist aus Keks.“
                                                                       (Martin Prusák)
Eines Nachmittags im August kam ein kleiner Junge zu Josef Schmids Kontrollstation im Garten. Er hatte eine Papiertüte in der Hand und schien ziemlich stolz auf seinen Fund zu sein, denn in seinem Gesicht strahlte ein breites Lächeln.
„Na mein Kleiner, was hast du denn da Schönes?“, fragte Josef und hob herausfordernd seine Augenbrauen.
„Kann man das essen, Herr Schmid?“, meinte der Junge und leerte den Inhalt der Papiertüte auf den Gartentisch.
Nun gibt es zwar durchaus Pilze, die Teilen der menschlichen Anatomie ziemlich ähnlich erscheinen. Da wäre zum Beispiel die „Gemeine Stinkmorchel“, oder auch „Leichenfinger“ genannt. Dies ist ein seltsamer Pilz, dem alle Sammler aus dem Weg gehen. In seinem Jugendstadium bildet er ein elastisches, kugelförmiges Gebilde, das sogenannte Hexen-Ei, das auf dem Waldboden liegend aussieht wie ein verloren gegangener Golfball.
Bald darauf wächst aus dem Golfball eine weisse, bis zu 30 cm lange zylindrische Rute empor, die in einem glockenförmigen Hut endet. Der Hut ist bedeckt mit einem olivgrünen, widerlich stinkenden Schleim. Der ekelhafte Geruch nach Leichenverwesung ist bereits in einer Entfernung von mehreren hundert Metern wahrnehmbar und dient als Lockmittel für Mistfliegen und andere Insekten, denn im Gegensatz zu den meisten anderen Pilzarten, die ihre Sporen durch den Wind verbreiten, sind Fliegen für die Fortpflanzung der Stinkmorchel verantwortlich.
Wenn man also tief im Wald auf eine Stinkmorchel trifft, um welche Hunderte von Fliegen herumschwirren, und man hat diesen widerlichen Verwesungsgeruch in der Nase, dann könnte einem leicht der Gedanke kommen, dort unten liege eine männliche Leiche vergraben, deren erigierter Penis aus dem Waldboden ragt. Nur der Schamhaftigkeit der früheren Namensgeber ist es zu verdanken, dass dieser Pilz „Leichenfinger“ oder „Stinkmorchel“ heisst, anstatt „Toter Mann im Wald vergraben mit riesigem Ständer“.
Dann gibt es noch verschiedene Pilzarten, die den menschlichen Ohren ähnlich sehen, wie beispielsweise gewisse Porlinge, die auf Baumstümpfen wachsen, oder das „Judasohr“, auch „Ohrlappenpilz“ genannt, dessen asiatische Variante sehr beliebt ist in der Chinesischen und Japanischen Küche.
Das aber, was der Junge aus seiner Papiertüte auf Josefs Gartentisch kippte, waren weder Judasohren, noch Eselsohren, noch Schweinsohren.
„Nein, mein Kleiner. Ich fürchte, das kann man nicht essen“, sagte Josef und griff zum Telefon, um die Polizei anzurufen.
Noch am selben Nachmittag ging die Polizei daran, die Wälder abzusuchen, und sie setzte ihre Suche noch weitere drei Tage lang fort. Dabei wurden weitere 29 menschliche Ohren gefunden. Sonst fand man nichts. Das Merkwürdige daran war, dass es sich bei allen dieser insgesamt 37 Exemplare durchwegs um linke menschliche Ohren handelte. Es war kein einziges rechtes dabei.
Die Gerichtsmediziner stellten fest, dass sie mit einem sauberen Schnitt von den Köpfen abgetrennt worden waren.
Es folgten lange Nachforschungen bei chirurgischen Instituten, Universitäten, Leichenhallen und Bestattungsinstituten überall im Land, die aber nichts ergaben, und bald darauf liess man den Fall als ungeklärt in der Schublade verschwinden.
Anfangs bewirkte dieser Vorfall, dass sich viele Leute davor scheuten, in die Wälder zu gehen, denn sie fürchteten, dort auf irgendwelche makabren Sachen zu stossen. Doch nach einigen Monaten wurde die ganze Sache vergessen, und im Sommer des nächsten Jahres erfreute sich das Pilz-Suchen wieder seiner früheren Beliebtheit.
Schwester Inge hatte Nachtdienst. Nach einem routinemässigen Rundgang durch den Schlafsaal der psychiatrischen Abteilung C12, dem sogenannten Van Gogh-Trakt, wo sie sich davon überzeugte, dass alle Patienten nach dem Abendessen ihre üblichen Medikamente eingenommen hatten und jetzt in ihren Betten ruhig schliefen, setzte sie sich in ihre kleine Kabine und machte es sich gemütlich. Aus ihrer Handtasche kramte sie ein Sandwich und eine Illustrierte hervor. Sie lehnte sich zurück, hob ihre Beine auf den Tisch neben dem Überwachungsmonitor und dem Kontrollpult mit den Alarmlämpchen, legte sich die Illustrierte auf den Schoss und wickelte das Sandwich aus dem Cellophan.
Schwester Inge mochte den Nachtdienst. Ausser ihr und den Patienten im Schlafsaal waren noch zwei Pfleger und ein junger Assistenzarzt auf der Psychiatriestation. Doch die Pfleger spielten Karten im Aufenthaltsraum und der Assistenzarzt hatte sich im Putzraum eine Schlafkoje hergerichtet. Er hatte eine mühsame 62-Stunden-Woche zu bestehen und nutzte jeweils die Nachtschicht, um etwas Schlaf nachzuholen.
Sie war ganz froh darüber. Tommy war ganz nett und als angehender Arzt bestimmt eine gute Partie für jede hübsche Krankenschwester. Sie spürte auch, dass sie bei ihm durchaus gute Chancen hätte, denn Tommy, der etwas schüchtern und im Umgang mit Frauen sichtlich unerfahren und unbeholfen war, lief jedes Mal rot an, wenn sie ihm direkt in die Augen blickte, und sprach sie ihn an, dann verfiel er in ein böses Stottern. Und wenn sie ihn nicht ansah, dann spürte sie seine Blicke auf ihrem Hintern oder am Ausschnitt ihres weissen Kittels, was sie aber nicht weiter störte.
Schwester Inge hatte absolut nichts gegen Tommy. Natürlich würde er sich niemals trauen, sie anzusprechen, sie zu einem Kaffee oder sonst was einzuladen, um irgendetwas zu initiieren. Dazu war er viel zu schüchtern. Doch sie hätte überhaupt keine Mühe, den kleinen Tommy um ihren kleinen Finger zu wickeln, wenn sie gewollt hätte.
Doch sie wollte nicht. Sie war zufrieden mit ihrer Einsamkeit und genoss die Stunden der Nachtschicht, die ungestört ihr alleine gehörten.
Schwester Inge dachte noch ein wenig über Tommy nach. Mit seiner unbeholfenen Art, seinen rot unterlaufenen kleinen Äuglein und den widerspenstigen Strähnen, die sein pickeliges Gesicht umrahmten, war er ihr gar nicht so unsympathisch. Sie musste schmunzeln beim Gedanken, dass er da drüben in seiner Koje womöglich gar nicht schlief, sondern an sie dachte und dabei zwischen seinen Beinen spielte. Schwester Inge kicherte kurz, schlug die Illustrierte auf und tat einen kräftigen Biss von ihrem Sandwich.
In letzter Zeit hatten sich die Betten der psychiatrischen Abteilung C12 mit sonderbaren Fällen gefüllt. Es schien eine unheimliche Epidemie von Massenpsychose zu grassieren, wie damals in Japan, als nach der Ausstrahlung eines Zeichentrickfilm zwölftausend Kinder mit epilepsieartigen Symptomen behandelt werden mussten, oder der Tulpenwahn in Holland des 17. Jahrhunderts, als einer einzigen, simplen Tulpenzwiebel plötzlich der Wert eines ganzen Hauses zugemessen wurde.
In unruhigen Zeiten von Naturkatastrophen, Wirtschaftskrisen oder politischen Unruhen häufen sich solche Massenhysterien. Manchmal sind sie beschränkt auf gewisse Gesellschaftsstrukturen. Angehörige einer religiösen Sekte können gemeinsam einem Wahn verfallen und Suizid begehen, oder Börsenmakler sich zu Dutzenden aus dem Fenster stürzen.
Massenpsychosen können aber auch ganze Völker und Nationen befallen, so wie das im Mittelalter geschah, als die katholischen Inquisition Millionen von Menschen der Komplizenschaft mit dem Teufel bezichtigte, folterte und umbrachte, oder in jüngerer Zeit der Faschismus in Deutschland, der zur Katastrophe führte.
Und auch heute macht sich wieder religiöser Fanatismus breit, eine besonders nahrhafte Basis für Massenpsychosen, und auch der gegenwärtige Herrschaftswahn mächtiger Nationen kann als solche bewertet werden.
Manchmal haben solche Massenpsychosen aber auch durchaus physische Ursachen. So wurden zum Beispiel im Mittelalter oft die Symptome einer Mutterkornvergiftung, das sogenannte Antoniusfeuer, mit einer teuflischen Besessenheit fehlgedeutet. Noch Ende des 17. Jahrhunderts wurden in Nordamerika Dutzende von Frauen und einige Männer der Hexerei beschuldigt. Sie wurden verurteilt und erhängt. Es ist durchaus anzunehmen, dass auch diese Hexenprozesse von Salem auf eine Vergiftung mit dem Mutterkorn zurückzuführen sind.
Die Pilze der Gattung „Mutterkorn“ parasitieren auf Getreidepflanzen. Besonders gerne befallen sie unseren heimischen Roggen. Ihre Pilzfäden durchdringen die jungen Fruchtkörper des Roggens und scheiden dabei ein stark zuckerhaltiges Sekret aus, den sogenannten Honigtau. Dieser Honigtau ist voller Pilzsporen, und die Insekten, die von diesem Honigtau angelockt werden, verschleppen die Pilzsporen auf andere Wirtspflanzen, so dass binnen kürzester Zeit das gesamte Roggenfeld vom Mutterkorn-Pilz befallen sein kann.
Ernährt von der Wirtspflanze entwickelt sich der Pilz rasch zu einem spindelförmigen, braun- bis schwarzvioletten Gebilde, dem sogenannten Sklerotium. Dieses fällt zu Boden und überwintert dort. Im nächsten Frühjahr wächst aus diesem Sklerotium eine Vielzahl rötlicher, kleiner Pilze heraus.
Das Sklerotium des Mutterkorns enthält eine Menge hochwirksamer Alkaloide. Das bekannteste ist wohl das Lysergsäure-Aklaloid, das als Grundlage zur LSD-Synthese dient.
Im Mittelalter kam es häufig zu Massenvergiftungen des Mutterkorns. Ursache war fast immer das Mehl aus mit Mutterkornsklerotien befallenem Roggen, das zum Brotbacken verwendet wurde.
Die als Ergotismus oder Antoniusfeuer bezeichnete Vergiftung beginnt mit allgemeinem Unwohlsein und dem Gefühl des Ameisen-Laufens an den Gliedmassen, später am ganzen Körper. Unter äusserst heftigen Schmerzen kommt es dann zu einer Dauerkontraktion der Muskulatur und der Blutgefässe, was zur Verkrüppelung und Absterben der Gliedmassen führen kann. Bei Schwangeren lösen Mutterkornvergiftungen fast immer einen Abort aus. Ausserdem werden im Gehirn die Seronin-Rezeptoren blockiert und die Dopamin-Rezeporen stimuliert, was heftige Halluzinationen zur Folge hat, die dauerhafte psychische Schädigungen nach sich ziehen können.
Die meisten Massenpsychosen haben aber keine physischen Ursachen.
Als an einer Amerikanischen Schule eine Spende von Koranbüchern einging, klagten viele Schüler über Hautausschläge, sobald sie die Schule betraten. Beim Verlassen der Schule verschwanden die Ausschläge sofort wieder.
Interessanterweise betraf das nicht nur die Schule mit den gespendeten Koranbüchern, sondern Dutzende weiterer Grundschulen.
Massenpsychosen an Schulen sind sehr häufig, genauso wie in Klöstern, Gefängnissen und Kasernen. Dabei sind körperlicher und seelischer Stress sowie die Massenunterkunft die idealen Voraussetzungen, und als Auslöser kann ein ungewöhnlicher Geruch, Rauch oder eine anstehende Prüfung wirken.
Die Ursache für die Hautausschläge an den amerikanischen Schulen waren natürlich nicht die gespendeten Koranbücher; diese waren weder mit Milzbrand noch mit anderen chemischen, biologischen oder atomaren Giften verseucht, sondern die traumatischen Ängste, welche die Anschläge des 11. September hinterlassen hatten.
Auch unerklärliche Phänomene können Massenpsychosen auslösen.
Als im Jahre 1806 in Leeds, England, eine Henne ein Ei legte, auf dem zu lesen war, „Christ Is Coming“, setzte eine enorme Massenpanik ein, da viele Leute glaubten, das Jüngste Gericht sei gekommen. Doch nachdem sich Scharen gläubiger Menschen um die wunderbare Henne versammelt hatten, musste der lustige Bauer gestehen, dass er sich nur einen kleinen Scherz erlaubt hatte. Was die frommen Menschen danach mit ihm und der Henne machten, ist nicht überliefert.
Ein kurioses Beispiel einer Massenhysterie stamm aus Nigeria. 1990 trat dort eine Epidemie der verschwundenen Genitalien auf.
Nach zufälligem Körperkontakt mit einem Fremden auf der Strasse waren besonders junge Männer davon überzeugt, ihrer Genitalien beraubt worden zu sein. Sie verspürten ein seltsames Gefühl in ihren Hoden, beschuldigten den Übeltäter, er hätte ihnen die Geschlechtsteile gestohlen, und sie zogen sogar auf offener Strasse ihre Hose aus, um es zu beweisen.
Als sie sahen, dass ihre Juwelen immer noch dort hingen, wo sie hingehörten, zogen sie verschämt ihre Hose wieder hoch und machten sich schleunigst davon.
Trotzdem hielten sich danach noch wochenlang alle jungen Männer vorsichtshalber die Hände schützend vor ihren Schritt, wenn sie zu Fuss auf der Strasse unterwegs waren, und sie achteten sorgsam darauf, bloss mit niemandem zusammen zu stossen.
Leider tragen heutzutage die Massenmedien viel zur Verbreitung solcher Massenpsychosen bei. Schliesslich erhöhen bizarre Sensationsmeldungen die Auflagen und die Einschaltquoten. Stellt sich eine Schlagzeile dann als Ente heraus, verschwindet sie von der Titelseite, und irgendwo weit hinten kommt ein Dreizeiler mit einer Richtigstellung.
Solche Massenpsychosen können auch ganz bewusst von gewissen Interessegruppen wie Terroristen, Werbefachleuten oder Ärzten generiert werden. Terrorängste können sich leicht ins Irrationale steigern und ein ganzes Gesellschaftssystem destabilisieren, Modeerkrankungen und pseudowissenschaftliche Berichte über gutes und schlechtes Cholesterin, linksdrehenden Milchsäuren oder fettfressende Enzyme können den Umsatz ganzer Medikamente- und Nahrungsmittelbranchen steigern.
Andrerseits, wer hat nicht schon selbst Juckreiz und das Bedürfnis, sich zu Kratzen verspürt, wenn er einem Menschen mit schlimmem Hautausschlag gegenüberstand? Und wem fing nicht auch schon mal der Kopf an zu brummen, nachdem sich jemand anders bei ihm über fürchterliche Kopfschmerzen beklagte? Der Mensch ist ein sensibles Wesen, sehr empfänglich für äussere Einflüsse.
Alle neuen Patienten, die innerhalb weniger Tage in die psychiatrische Klinik eingewiesen worden waren, wo Schwester Inge tätig war, wiesen ungewöhnliche schizoide Symptome auf.
Der sonderbarste von allen war ein unscheinbare Biologielehrer namens Vladimir Sikorsky. Er war Schwester Inge nicht geheuer, denn man konnte nie im Voraus wissen, worin sich Sikorsky als Nächstes verwandeln würde. Manchmal war es nur eine Schildkröte, und all seine Bewegungen wurden langsam und schwerfällig, ein andermal wiederum konnte er geschwind wie ein kleines Mäuschen zwischen den Betten herumwirbeln, und dann war es praktisch unmöglich, ihn einzufangen.
Die Ärzte schienen aber überaus fasziniert von diesem Patienten zu sein, und Professor DiCugno, der Chefarzt der Abteilung, konnte stundenlang im Gespräch mit Sikorsky verweilen. Dabei redeten sie Unverständliches über Interferenzen von Zeitbändern, Drehung der Gegenwartsabtastung, verwickelte Endlosschlaufen oder ähnliches, und Schwester Inge nahm an, dass es sich bei Sikorsky wohl um einen übergeschnappten Wissenschaftler handeln müsse.
Das Merkwürdigste aber war das, was alle Patienten auf der Abteilung C12 der Psychiatrie gemeinsam hatten: Ihnen fehlte das linke Ohr.
Es musste mit einem scharfen Skalpell entfernt worden sein, denn es war keine Narbe zu erkennen. Die Haut der linken Kopfhälfte ging nahtlos in den offenen Gehörgang über, ohne den kleinsten Ansatz einer Ohrmuschel erkennen zu lassen. Niemand hatte eine Erklärung dafür, wie so etwas möglich sein konnte.
Dies war der Grund, warum man die Abteilung C12 der Psychiatrie neuerdings den Van Gogh-Trakt nannte.
An einem sonnigen Morgen Ende September durchstreifte Josef Schmid einen bewaldeten Hügel östlich der Stadt. In seiner Tasche hatte er bereits ein schönes Exemplar eines Blaustiel-Schleimfusses, der ihm in seiner Sammlung noch fehlte, und den er daheim zu präparieren gedachte. Er stieg eine leichte Anhöhe hoch, vorbei an einigen Zitronentäublingen und einer Gruppe von Rauchblättrigen Schwefelköpfen, bahnte sich den Weg durch ein dichtes Gebüsch und erreichte eine kleine Lichtung, umgeben von hohen Fichten.
Die tief stehende Sonne schien durch das Geäst der Bäume, und ihre Strahlen huschten über den Waldboden. Der Waldboden war mit Tannennadeln bedeckt. Und mitten auf dieser kleinen Lichtung entdeckte Josef eine grosse Anzahl von Kaiserlingen, die einen Hexenring bildeten.
Und das verblüffte ihn ungemein.
Der Kaiserling ist in unseren Breitengraden so gut wie ausgestorben. Man findet ihn höchstens noch in den Wäldern des Kaukasus, doch auch dort ist er gefährdet, denn die kaukasischen Bauern pflegen ihre Schweine in den Eichenwäldern weiden zu lassen, und für die Schweine ist der Kaiserling eine schmackhafte Abwechslung ihres Menüs, das sonst nur aus Eicheln besteht. Dem Geschmack des Schweinefleisches verleiht das eine sanfte, nussige Note.
In der Antike gehörte der Kaiserling zu den erlesensten Delikatessen. Seinen lateinischen Namen „Amanita caesarea“ verdankt er dem römische Kaiser Nero, der den Kaiserling über alles liebte.
Der Kaiserling gehört zur Familie der Knollenblätterpilze, der Amanita. Ausser ihm und dem Perlpilz sind alle andern Vertreter der Amanita-Familie giftig.
Ein sogenannter Hexenring ist eine kreisförmige Anordnung der Fruchtkörper eines Pilzes, dessen Mycel strahlenförmig aus dem Erdreich herauswächst. Vielfach ist das bei Schwindlingen, Ritterlingen und Maipilzen der Fall.
Den so entstandenen Ring aus Pilzen auf dem Waldboden hatte man im Mittelalter, zu Zeiten der Inquisition, für einen Ort gehalten, wo nachts Hexen ihre teuflischen Rituale abhielten, denn damals konnte man sich eine solch perfekte geometrische Anordnung von Pilzen anders nicht erklären. Das verlieh dem Hexenring seinen Namen.
Doch Josef hatte noch nie davon gehört, dass Pilze der Gattung Amanita einen Hexenring bilden könnten.
Der Hexenring aus Kaiserlingen am Boden der Waldlichtung hatte einen Durchmesser von rund zwei Metern. Er bildete einen perfekten Kreis. Die einzelnen Pilze hatten einen etwa 15 Zentimeter hohen Stiel und einen goldgelben, leicht gewölbten Hut von etwa 10 Zentimetern Durchmesser. Unter dem Hut hing am hellgelben Stiel ein Hautring, der im Jungstadium das Hymen gebildet hatte. Der Stiel wuchs aus einer blättrigen, weissen Knolle heraus, was für alle Knollenblätterpilze das typische Merkmal ist und was dieser Gattung auch den Namen verlieh.
Josef fing an, die einzelnen Pilze des Kreises zu zählen. Er musste dreimal dazu ansetzen, denn der Anblick der Pilze in dieser herrlichen Ordnung machte ihn ganz konfus. Er kam auf 37 Exemplare.
Vorsichtig setzte sich Josef in die Mitte des Hexenrings auf den Waldboden. Voller Staunen betrachtete er die wunderschönen Pilze, die ihn umgaben. Er dachte daran, einen oder vielleicht sogar zwei davon mitzunehmen; den einen für seine Sammlung und den andern zum Geniessen.
Er fasste in seine Tasche und holte daraus ein Taschenmesser hervor. Er klappte es auf. Im Baumwipfel über ihm krächzte ein Rabe.
Josef stiess die Klinge des Messers vorsichtig in den Boden unter den Stiel eines der Pilze. Ein weiterer Rabe im Baumwipfel über ihm krächzte und flatterte davon. Josef hielt inne und blickte nach oben.
Er bemerkte in den Bäumen ringsherum etliche Raben sitzen. Sie schienen ihn zu beobachten. Verwundert schüttelte Josef den Kopf und wandte sich wieder dem Pilz zu, den er vom Waldboden abtrennen wollte. Er zögerte.
Nochmals schaute er sich die wundervolle Anordnung der Kaiserlinge in diesem perfekten Hexenring an, und er brachte es einfach nicht übers Herz, diese herrliche Ordnung zu zerstören. Er klappte das Taschenmesser zu und steckte es zurück in die Tasche.
Nachdem er eine Stunde lang andächtig in der Mitte des Kreises von Kaiserlingen auf dem Waldboden gesessen hatte, entschloss er sich, nach Hause zu eilen und mit seinem Fotoapparat wiederzukommen. Es schien ihm das Vernünftigste, diese Pilze im Wald ruhen zu lassen, sie jedoch immerhin auf Bild zu festzuhalten.
So eilte er nach Hause.
Zuhause musste Josef noch einen neuen Film in den Fotoapparat einlegen, denn er wollte den Hexenring aus Kaiserlingen präzise dokumentieren und brauchte dazu mindestens eine komplette Filmrolle.
Während er am Apparat herumhantierte, klingelte draussen die Glocke. Ein Kunde wartete im Garten bei seiner Kontrollstation.
Etwas unwillig ging Josef nach draussen und sah Paco, den kleinen Südamerikaner. Er hielt einen grossen, prallvollen Plastiksack in den Armen und grinste Josef blöde an.
„Na, haben wir wieder Kraut und Rüben mitgebracht?“, fragte Josef und war ziemlich ungehalten, denn er wollte so schnell wie möglich zurück zu seinen Kaiserlingen.
„Dann zeige schon her!“, knurrte er unwillig.
Paco leerte den Plastiksack auf dem Gartentisch aus, und Josef stockte der Atem.
In einer unförmigen, verklebten Masse erkannte er die Kaiserlinge, die er noch vorhin in diesem herrlichen Hexenring auf der Waldlichtung bewundert hatte. Nun waren sie matschig und zusammengestaucht, waren zerquetscht und zerrissen und bildeten zusammen mit einigen Schleierlingen ein schreckliches Massaker.
           „Pilze gut?“, fragte Paco und grinste blöde.
Josef hörte ihn nicht. Sein Gesicht wurde ganz blass, und sein Blick erstarrte. Ungläubig starrte er auf das Gemetzel, das da vor ihm auf dem Gartentisch lag. Er war erschüttert. Ihm kamen fast die Tränen.
Dann fing er langsam an, mit zitternden Fingern die Kaiserlinge vorsichtig aus dem Gemetzel herauszulösen.
Es war nicht mehr viel zu retten. Die einzelnen Pilze waren zerfetzt, ihre zarten, goldgelben Hüte waren eingedrückt und die Stiele zerbrochen. So gut er konnte, trennte Josef die Fragmente der Kaiserlinge von den umliegenden Schleierlingen. Die Schleierlinge, oder auch „Gifthautköpfe“ genannt, steckte Josef wieder zurück in den Plastiksack und reichte sie Paco.
           „Die hier sind gut für dich“, sagte er und konnte den Blick von den misshandelten Kaiserlingen auf dem Gartentisch nicht lösen.
           Als ihn Paco so traurig dastehen sah, sagte er:
„Du immer alleine. Alleine nix gut. Du heute Abend kommen in mein Haus, und wir Pilze essen, Wein trinken und fröhlich sein.“
           Josef sagte kein Wort und blickte nur auf seinen Gartentisch. Paco gab ihm einen kleinen, freundschaftlichen Stoss und grinste ihn an.
           „Du brauchen etwas Spass und gute Freunde, dann du auch glücklich. Du kommen heute Abend, gut?“
           „Gut“, sagte Josef, nur, um ihn endlich loszuwerden.
Die meisten Giftpilze haben die angenehme Eigenschaft, dass einem von ihnen gleich übel wird, nachdem man sie gegessen hat. Dadurch kann man sie gleich nach ihrem Verzehr wieder herauskotzen, noch bevor ihre Toxine in den Kreislauf des Stoffwechsels gelangen und dort etwas Schlimmes anrichten.
Nicht so beim „Grünen Knollenblätterpilz“ und beim „Orangefuchsigem Schleierling“, auch „Gifthauptkopf“ genannt.
Die Latenzzeit des „Grünen Knollenblätterpilzes“ beträgt etwa 24 Stunden. Dann tritt die erste Vergiftungsphase ein. Sie ist gekennzeichnet durch Erbrechen, blutig-wässrige Durchfälle und starke Darm- und Magenkoliken. Hat man diese erste Phase lebend überstanden, tritt Phase 2 ein.
In dieser zweiten Phase fühlt man sich wohl und erholt, und man glaubt, das Schlimmste überstanden zu haben. Nach wenigen Tagen dieses Wohlbefindens tritt Phase 3 ein.
Die Leber und die Nieren versagen ihre Tätigkeit und der Tod tritt im Koma durch Kreislaufversagen ein.
Bei der Vergiftung an einem „Gifthautkopf“ können ganze 20 Tage bis zu den ersten Symptomen verstreichen. Während dieser Zeit sitzt das Orellanin, das Toxin des Pilzes, in der Leber, und diese Zeit braucht die Leber dazu, um das Orellanin in einen aktiven Metaboliten umzuwandeln. Nach 20 Tagen entlässt die Leber das aktive Metabolit in den Blutkreislauf, welches dann sogleich zu einem verheerenden Feldzug durch die inneren Organe ansetzt.
Erste Symptome sind Trockenheit und Brennen in der Mundhöhle, sowie starker Durst. Später kommen Übelkeit, Erbrechen, Durchfall und Kältegefühl dazu, häufig begleitet von heftigen Kopf- und Lendenschmerzen. Schliesslich kollabieren Nieren, Leber, Milz und das gesamte Nervensystem.
Wegen seiner langen Latenzzeit bemerkte man erst vor wenigen Jahren die Gefährlichkeit des Schleierlings. Früher galt er als harmlos, denn niemandem wäre es in den Sinn gekommen, zwischen dem Verzehr eines Pilzes und Vergiftungserscheinungen, die erst drei Wochen danach eintreten, einen Zusammenhang zu erkennen.
Eine Vergiftung mit diesem Pilz ist gerichtsmedizinisch kaum nachweisbar, und es ist durchaus möglich, dass eine ganze Reihe von ungeklärten Todesfällen auf sein Konto geht.
Den halben Nachmittag verbrachte Josef damit, die verstümmelten Kaiserlinge zu restaurieren. Verzweifelt versuchte er, zusammengehörende Fragmente zu finden und sie mit Knochenleim zu verbinden. Doch es war sinnlos. In diesem schleimigen Gewühl aus Erde, Tannennadeln, Maden, Würmern und Pilzbrei waren kaum zwei Teile zu finden, die zusammengepasst hätten.
Schliesslich gab er es auf. Er kippte seine geliebten Kaiserlinge, oder was davon übriggeblieben war, auf den Kompost und ging in den Keller. Aus seiner Psilocybin-Zucht pflückte er sich drei kleine Pilzchen. Er ging damit nach oben, holte sich aus dem Kühlschrank ein Bier, spülte die Pilzchen damit hinunter und legte sich aufs Sofa.
Als er die Augen schloss, tauchte er ein in ein Meer aus Farben. Hin und wieder schwamm ein gelber Fisch mit einer dicken Brille auf der Nase und einer Backpfeife im Mund an ihm vorbei. Weiter unten wusch sich eine Meerjungfrau ihr Haar in einem Trog voller Frösche, und die Frösche sangen dazu „In The Mood“.
Scharen von bunten Schmetterlingen, deren Flügel aussahen wie grosse, fleischige Ohren, flatterten hoch über ihm. Eine mächtige Eiche kam hastig auf Josef zugeschritten, eine Reisetasche in den Händen haltend. Sie fragte: „Können sie mir den Weg zum Bahnhof zeigen?“
Rote, riesige Pilze, versehen mit Armen und Beinen, rempelten ihn von der Seite her an, murmelten ein „Pardon, mein Herr“ und hoben ihre Hüte zum Gruss. Dann hielten sie sich an den Händen fest und tanzten um Josef im Kreis herum. Sie lachten ihn aus und sangen:
„Müllers Kuh, das bist du, raus musst du...“.
Plötzlich brach ein heftiger Sturm los. Vom Winde angetrieben kam von weit her ein Plastiksack angeflogen. Paco, der kleine Südamerikaner, sass darauf wie ein Rodeo-Reiter auf einem galoppierenden Pferd und fragte:
„Pilze gut?“
Dabei grinste er blöde, und zwischen seinen Zähnen wanden sich Maden und Würmer.
           Josef schreckte hoch und riss die Augen auf. Während seines Trips hatte er jegliches Gespür für die Zeit verloren. Er schaute auf die Uhr.
Es war kurz vor acht.
           
„Senor Schmid, du kommen spät!“, begrüsste ihn Paco, als Josef an der Türe seiner Wohnung klopfte.
           „Habt ihr etwa schon gegessen?“, fragte Josef nervös.
           „Wir nie essen, bevor Gast im Haus!“
Paco schob Josef in die Wohnung.
           „Imelda, unser Gast ist angekommen endlich. Wir können essen!“
Die Wohnung war klein und ziemlich ärmlich eingerichtet. In der Küche, die gleichzeitig als Esszimmer diente, waren sechs Teller auf dem Tisch angerichtet. Es roch nach frischgekochtem Pilz.
Beim Herd stand eine kleine, dickliche Frau und sah Josef gütig an.
           „Guten Abend, Herr Schmid. Bitte setzen sie sich doch“, sagte sie und wies Josef zum Tisch.
           Am Tisch sassen bereits zwei kleine Kinder, die Josef mit grossen Augen anstarrten. Zwischen ihnen sass eine ganz in schwarz gekleidete Frau.
           „Das sind unsere Kinder Manolo und Maria. Und das ist meine Schwester Esmeralda aus San Guillermo. Sie ist in Trauer“, sagte Paco und fügte leise hinzu:
„Ihr Mann UNO-Soldat in Angola. Treten auf Mine und machen Bumm.“
Dazu machte er mit seinen Händen eine vielsagende Bewegung.
           „Das tut mir leid für Sie“, sagte Josef und setzte sich an den Tisch. Dabei bemerke er auf einem Regal über dem Tisch einen bronzenen Pokal. Es war die Trophäe für den dritten Platz eines Golfturniers. Sie stellte einen Golfspieler dar. Anmutig stand er auf einem Sockel aus Edelholz und hob seinen Schläger hoch, um damit den Ball zu treffen. Auf dem Sockel war eine Plakette angebracht. Darauf stand:
INTERNATIONALES GOLFTURNIER
SANTA MARIA DEL MAR 2005
3. PLATZ
Zu beiden Seiten des Golfpokal waren Kerzen aufgestellt, was der Trophäe etwas Sakrales verlieh.
           Einen kurzen Moment lang wunderte sich Josef, wie ein armer Einwanderer aus Südamerika sich den Luxus des Golfspiels leisten konnte.
           „Sie spielen Golf?“
           „Oh, das ist lange her...“
Dann schaute Josef in Esmeraldas Gesicht. Sie schenkte ihm ein zaghaftes Lächeln, und Josef bemerkte dabei ihre grünen Augen. Eines davon schien sich nicht zu bewegen.
           „Aber heute Abend wir wollen fröhlich sein“, bemerkte Paco.
„Manolo, gib unserem Gast ein Glas Wein.“
Josef sah zu, wie der kleine Manolo auf dem Stuhl kniend die Weinflasche mit beiden Händen ergriff und etwas unbeholfen Wein in Josefs Glas zu giessen versuchte. Dabei gingen einige Tropfen auf die weisse Tischdecke.
Sein Vater setzte sich zu ihm, griff ihm die Flasche aus der Hand und gab ihm einen kleinen Klaps auf den Hintern. Pacos Frau Imelda kam mit einem Einmachglas zum Tisch herüber.
           „Semmelstoppelpilz in Olivenöl. Sie müssen probieren“, sagte sie und gab ihm etwas davon auf den Teller.
           „Maria, schneide Herrn Schmid ein Stück Brot ab.“
Die kleine Maria ergriff ein grosses Messer und fing an, am Brotlaib herum zusägen. Esmeralda nahm ihr das Messer aus der Hand und schnitt einige Scheiben vom Brot ab.
           „Ein wenig Salz darauf und ein Stück Brot dazu. Schmeckt gut“, sagte Imelda.
Josef nahm etwas davon. Es schmeckte hervorragend.
           „Sie sind Pilzkontrolleur?“, fragte ihn Esmeralda.
Josef sah sie etwas verwirrt an.
           „Ja,“ sagte er, „ich bin Pilzkontrolleur.“
           „Dann kennen Sie sich wahrscheinlich sehr gut aus damit“, sagte sie.
„Ja, ich denke schon.“
Während Josef mit dem Semmelstoppelpilz beschäftigt war, blickte sie ihn mit ihren grünen Augen von der Seite her an, und das war ihm recht unangenehm.
           „Ja dann können Sie uns ja auch bestimmt sagen, wie diese Pilze heissen, die mein Bruder heute gefunden hat.“
           „Ja, ja natürlich“, stotterte Josef, „die Pilze, die er heute im Wald gefunden hat, das, das sind...“
           „Jedenfalls duften sie hervorragend!“, unterbrach ihn Pacos Frau und stellte eine dampfende Schüssel auf den Tisch.
Josef blickte wie gebannt auf die Porzellanschüssel, die dampfend vor ihm auf dem Tisch stand. Dann nahm er einen kräftigen Schluck vom Wein, wandte sich zu Paco und sagte:
           „Deine Frau ist eine Schlampe und hat keine Ahnung vom Kochen. Die Pilze sind Scheisse!“
Er gab der dampfenden Porzellanschüssel einen kräftigen Stoss, so dass sie vom Tisch fiel und auf dem Küchenboden zerschellte.  
„Oh mein Gott, was für eine Sauerei“, rief Pacos Frau, schlug die Hände übers Gesicht und starrte auf den Scherbenhaufen auf dem Küchenboden, verstreut in einer Lache von gekochten Pilzen.
Die Kinder fingen an zu weinen.
„Du kommen in mein Haus und dann du beleidigen meine Familie! Was habe ich dir getan? Warum du kein Respekt vor meine Familie?“
Paco war ausser sich. Er lief rot an, und seine Halsschlagader schwoll bedrohlich an, so dass Josef den Eindruck bekam, sie könnte jeden Moment platzen.
„Du jetzt kommen nach draussen und wir uns schlagen wie Männer!“ keuchte er, ergriff Josef am Kragen und zerrte ihn zur Türe hinaus.
Draussen auf der Strasse liess sich Josef von Paco die Nase blutig schlagen, was gar nicht so einfach war, denn Paco war klein und auch nicht gerade der Stärkste, und so musste ihm Josef geradezu sein Gesicht hinhalten, damit Paco einige gezielte Schläge landen konnte. Als es endlich vorbei war, liess er den fluchenden Paco stehen und machte sich auf den Weg nach Hause.
Schwester Inge hatte ihr Sandwich aufgegessen, las in der Illustrierten gerade den neusten Klatsch vom spanischen Königshof, als am Kontrollpult ein Alarmlämpchen aufleuchtete, begleitet von einem unangenehmen Surren.
„Nicht schon wieder dieser verfluchte Sikorsky!“, murmelte sie vor sich hin, doch ein Blick auf den Überwachungsmonitor bestätigte ihre Vermutung. Die Kamera, angebracht in der hinteren Ecke des Schlafsaals, zeigte den Blick aus der Vogelperspektive auf die Betten des Raumes, und tatsächlich war es das mittlere Bett der hinteren Front, wo sich eine Gestalt aufrecht sitzend leicht bewegte. Die restlichen Patienten schienen ruhig zu schlafen.
Schwester Inge wusste, was zu tun war. Aus dem Wandschrank zu ihrer Linken holte sie eine Injektionsspritze und eine Ampulle, stiess die Nadel durch den Gummizapfen und zog die Flüssigkeit in die Spritze. Dabei überlegte sie noch kurz, ob sie den Assistenzarzt in seiner Koje wecken sollte, doch das schien ihr nicht unbedingt notwendig. Auch wollte sie sich einen möglichen peinlichen Anblick ersparen, falls Tommy dort wirklich das tat, was sie vermutete.
Also trat sie aus ihrer Kabine in den engen, neonbeleuchteten Flur und eilte zum Schlafsaal der Abteilung C12.
Sachte öffnete sie die Türe und blickte in den Raum. Der Vollmond leuchtete durch die vergitterten Fenster. Es war ruhig im Saal.
Schwester Inge trat ein und schloss die Tür hinter sich. Sie sah Sikorsky im mittleren Bett der rechten Reihe, wie er darin aufrecht sass und leise vor sich hin stammelte. Langsam schritt sie an den Bettreihen vorbei, vorsichtig, um die anderen Patienten nicht zu wecken. Dann sah sie mit Erstaunen, dass Sikorsky weinte. Er machte den Eindruck eines kleinen, verschreckten Jungen, der aus einem bösen Traum aufgewacht war und nun Trost brauchte.
Schwester Inge setzte sich an den Bettrand, betrachtete Sikorskys verweintes Gesicht und hörte ihn leise wimmern.
„Was ist denn los, Herr Sikorsky?“, fragte sie besorgt.
Sikorsky schluchzte leise und stammelte Unverständliches. Er machte auf Schwester Inge so einen unschuldigen und hilfslosen Eindruck, dass sie es nicht lassen konnte, ihn sachte in die Arme zu nehmen
„Ist ja schon gut, mein kleiner Junge“, flüsterte sie, während sie ihn tröstend streichelte.
Nachdem er sich etwas beruhigt hatte, zog sie die Spritzte aus der Tasche ihres Kittels. Sie hob die Injektionsnadel empor, drückte einige Tropfen heraus, um die Nadel zu entlüften, und schob sie vorsichtig in Sikorskys Oberarm.
„Mama“, schluchzte Sikorsky.
„Es tut nicht weh, mein Kleiner.“
„Mama, mein Drachen ist kaputt.“
Schwester Inge betupfte seinen Oberarm mit einem alkoholgetränkten Wattebausch und schob Sikorsky dann sanft aufs Bett zurück.
           „So, jetzt schlaf schön wieder ein, mein Kleiner.“
Sikorsky entspannte sich. Die Injektion zeigte schnell Wirkung. Er blickte kurz zum Fenster an der gegenüberliegenden Seite des Zimmers, wo der Mond durch die Gitterstäbe hindurch schien. Hinter dem Fenster stand eine Ente und starrte ihn an. Sie hatte einen Sturzhelm auf dem Kopf, eine kleine Ledertasche über die Schultern gehängt und starrte ihn einfach nur an.
Sikorsky schloss die Augen. Die Spritze zog ihn sanft in den Schlaf.
           Schwester Inge war froh, dass diesmal alles glatt verlaufen war. Bei diesem Sikorsky konnte man nie wissen, worin er sich als nächstes verwandeln würde. Diesmal war es zum Glück nur ein kleiner Junge mit einem kaputten Drachen. Nun schien er zu schlafen.
Sie erhob sich von seinem Bett, streifte die Decke über ihn und machte sich leise wieder auf den Weg zurück in ihre Kabine.
Als sie die Tür hinter sich schliessen wollte, hörte sie Sikorskys Stimme, diesmal klar und deutlich.
           „Schwester Inge!“
Sie drehte sich um und blickte zurück in den Schlafsaal.
Sikorsky stand hoch erhoben auf seinem Bett, schaute sie an und strahlte über das ganze Gesicht wie ein kleiner Junge, der gerade einen lustigen Streich gespielt hatte. Offensichtlich hatte er sich entleert, denn über seine weisse Pyjamahose lief ein gelbbrauner, langer Fleck.
Er flüsterte mit heller Stimme:
„Prinz Guillermo wird kommen.“
Plötzlich entstand im Schlafsaal ein unglaublicher Tumult. Alle Patienten waren mit einem Schlag hellwach. Sie schrien aus vollem Halse und rannten völlig konfus durcheinander. Dabei hielten sie sich die Köpfe, an denen das linke Ohr fehlte, so als würden in ihren Schädeln riesige Kirchenglocken dröhnen.
Einer von ihnen stürmte auf Schwester Inge los, die wie erstarrt an der Türe stand. Er rempelte sie an und lief in den engen Flur hinaus. Andere folgten ihm schreiend.
Und mitten in diesem Gewühl stand ein kleiner Junge, der sich gerade in die Hose gemacht hatte, auf seinem Bett und strahlte glückselig vor sich hin.
Es war stockfinster, als Josef Schmid bei seinem Haus ankam. Die Strassenbeleuchtung in seinem Viertel war lausig. Er hielt sich das Taschentuch an die blutende Nase und wollte die Tür aufschliessen, als er Geräusche hörte. Sie schienen aus seinem Garten zu kommen. Zuerst dachte er an Katzen oder Marder, denn es klang nach einem Rascheln und Scharren im Laub. Dann hörte er so etwas wie Gemurmel.
„Kundschaft? Um diese Zeit?“, wunderte er sich und ging ums Haus herum in den Garten, wo seine Pilzkontrollstation stand.
Im Dunkeln des Gartens hinter seinem Haus sah er die Umrisse einer Gestalt. Sie war über den Komposthaufen gebeugt, in den Josef noch am selben Nachmittag schweren Herzens die Überreste der Kaiserlinge entsorgt hatte, welche Paco ihm gebracht hatte. Der Mann wühlte darin herum.
„Was tun Sie denn da?“, fragte Josef und trat näher heran.
Der Mann schien ihn nicht zu hören.
Josef bemerkte, dass er nur mit einer Pyjamahose bekleidet war, was ihm ziemlich merkwürdig erschien, denn um diese Jahreszeit war es abends bereits recht kühl. Der Mann wühlte im Kompost, machte dazu seltsame Laute, beugte sich tief runter in den Komposthaufen, und die Pyjamahose rutschte dabei an seinem Hintern hinunter.
Als Josef unmittelbar hinter ihm stand, erhob sich diese seltsame Gestalt und drehte sich um. Der Mann hielt die zerfetzten Fragmente eines Kaiserlings in der Hand.
„Ich hab’s gefunden!“, sagte er, ohne dabei Josef anzusehen.
Er blickte gebannt auf seine Handfläche, und auch Josef schaute verwundert auf den verstümmelten Pilz in seiner linken Hand. Dann schaute Josef hoch und blickte in das Gesicht seines nächtlichen Besuchers.
Der Mann strahlte, und Josef bemerkte mit Schrecken, dass ihm das linke Ohr fehlte.
Der Mann kicherte und sah plötzlich hoch in Josefs Augen. Sein Kichern verstummte. Das Strahlen in seinem Gesicht verblasste. Langsam neigte er seinen Kopf zur Seite und blickte besorgt in Josefs Gesicht.
„Ihre Nase blutet“, sagte er.
„Ja, ich habe mich geschlagen.“, sagte Josef.
„Oh, wie schrecklich!“, entgegnete der Mann.
Dann hob er seine Hand hoch, drückte sich den Kaiserling an seinen Kopf, zermantschte ihn an seiner linke Schläfe, wo ihm das Ohr fehlte, und rannte davon.
Josef blieb noch einen Moment kopfschüttelnd im Garten stehen.
„Was für ein seltsamer Besucher“, dachte er.
Doch plötzlich verspürte er die schwere Müdigkeit in seinem Körper. Der Tag war anstrengend. Er ging ins Haus, wusch sich das blutige Gesicht und legte sich schlafen.
Früh morgens wurde Josef geweckt von eigenartigen Geräuschen, die aus seinem Garten kamen. Er raffte sich aus dem Bett, ging zum Fenster und zog die Vorhänge beiseite. Draussen regnete es.
Josef sah, wie im Garten zwei Gestalten im Regen standen und seinen Komposthaufen durchwühlten. Noch schlaftrunken wankte Josef zur Hintertür, die zum Garten raus führte, und riss sie auf.
„He, was macht ihr denn da?“, rief er ihnen zu.
Die beiden Männer am Komposthaufen, völlig durchnässt und nur mit einer Pyjamahose bekleidet, fuhren hoch, blickten verschreckt zu Josef rüber und rannten davon.
Kopfschüttelnd machte Josef die Tür wieder zu und ging in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen.
Nach dem Kaffee zog sich Josef an, nahm den Regenschirm und ging in die Stadt. Es regnete in Strömen. Vor einem Porzellanladen blieb er stehen und schaute sich die Objekte im Schaufenster an. Er ging in den Laden und kam mit einem Paket zurück. Es war in goldenes Geschenkpapier gewickelt, und um das Päckchen war ein rotes Band kunstvoll zu einer Schleife gebunden.
Mit dem Päckchen in der Hand ging er zu Pacos Wohnung. Der Regen wurde schwächer. Josef läutete.
Manolo, Pacos kleiner Sohn, öffnete die Tür und schaute Josef mit grossen Augen an. Er rannte schreiend in die Wohnung zurück.
Esmeralda, Pacos Schwester, kam an die Tür.
„Hallo Herr Schmid. Sie haben uns ja recht zeitig verlassen gestern Abend“, sagte sie und lächelte ihn an.
„Ja, äh...ich hatte was dringendes zu erledigen“, antwortete er und versuchte, ihr Lächeln zu erwidern.
„Ist Paco zu Hause?“, fragte er zögernd.
„Er ist bei der Arbeit. Kann ich etwas für Sie tun?“
„Ja, vielleicht. Würden Sie das bitte seiner Frau geben?“
Er reichte ihr das Päckchen.
           „Oh, das ist aber ein schön schönes Päckchen! Ist da etwa eine Porzellanschüssel drin? Ein Elefant wird es kaum sein, dazu ist es etwas zu klein.“
           Esmeralda nahm lachend das Päckchen entgegen.  
Josef lächelte nervös. Er blickte in Esmeraldas grüne Augen und kam sich vor wie ein Idiot.
„Ja wissen Sie, ich...“
„Sie müssen mir noch vieles über Pilze erzählen, Herr Schmid. Gestern Abend sind Sie leider nicht mehr dazu gekommen.“
„Ja, gerne...natürlich...äääh...Kann ich sie zu einem Kaffee einladen? Oder gehen wir doch gemeinsam was Essen.“
Josef verbrachte den restlichen Tag mit Esmeralda. Es war ein schöner Tag. Die Sonne schien, und ihre Strahlen trockneten den nassen Asphalt und wärmten Josefs Herz.
Nachdem sie in einem kleinen Restaurant zu Mittag gegessen hatten, gingen sie an der Uferpromenade spazieren, schlenderten entlang der feinen Geschäfte, die den breiten Boulevard der Fussgängerzone zu beiden Seiten säumten, und unterhielten sich.
„Ihr Bruder spielt Golf?“
„Wie kommen sie denn darauf?“
„Der Pokal in der Küche...“
„Ach, den hat er mal in den Müllhalden gefunden. Bitte verzeihen Sie meinem Bruder. Manchmal prahlt er damit...“
„Ich verstehe...“
„Wissen Sie, Paco ist nicht wirklich mein Bruder. Nun, eigentlich schon. Nur kennen wir beide unsere Eltern nicht, verstehen Sie...?“
„Nein...“
„Oh, wie soll ich Ihnen das bloss erklären? Nun, damals, als ich und mein Bruder in San Guillermo lebte, da...“
Und Esmeralda erzählte von sich, sprach von ihrem Leben in Südamerika, sprach davon, wie sie in einem Weisenheim aufgewachsen war, sprach davon, wie sie ihr Auge und ihre Niere verloren hatte, sprach davon, wie sie mit zehn Jahren als Prostituierte für einen Zuhälter anschaffen musste, sprach davon, wie Paco in den Müllhalden arbeitete, um sie zu ernähren, sprach davon, wie sie ihr Auge wiederfand, es aber dann nicht mehr wollte, sprach über ihren Mann, der Sohn eines reichen Drogenbarons war und der in Angola ums Leben kam, sprach über ihren Bruder Paco, der eine erfolgreiche aber kurze Karriere als Fussballer hinter sich hatte, die ihn bis ins Team dieser Stadt verschlagen hatte, die er aber aufgrund seines Gesundheitszustands beenden musste, sprach davon, wie Paco ihr geholfen hatte, hierher zu kommen, um Arbeit zu suchen, sprach über ihre zwei kleinen Kinder, die jetzt bei einer Bekannten in Kolumbien lebten und darauf warteten, dass Esmeralda für sie eine Aufenthaltsbewilligung bekam und sie zu sich holte, und Esmeralda fragte Josef über sein Leben und über Pilze aus, und Josef erzählte ihr all die lustigen und kuriosen Pilzgeschichten, die er im Verlauf seiner Karriere gesammelt hatte und mit denen er schon so viele seiner Kunden ins Staunen gebracht hatte. Er erzählte ihr auch über die vielen Reisen, die er in fremde Länder unternommen hatte, über die Entdeckungen, die er gemacht hatte, und die das Forschungsgebiet der Mykologie bereicherten, und plötzlich bemerkte er, dass es dabei immer wieder nur ums Gleiche ging. Und zum ersten Mal in seinem Leben bekam er den Eindruck, wie öde und langweilig sein Leben doch war. Gleichzeitig bemerkte er, wie sein Enthusiasmus für Pilze und für Mykologie zu schwinden begann.
Und trotzdem war es für Josef ein wunderschöner Nachmittag. Der Boulevard war voller Leute und voller Leben. Junge Mütter schoben ihre Kinderwagen vor sich her, vor den Cafés sassen viele Menschen und genossen einen der letzten warmen Tage dieses Jahres, Liebespärchen schauten sich die Vitrinen der Juweliergeschäfte an, und hin und wieder huschten ein übermütiger, kleiner Junge mit seinem Dreirad ganz knapp an ihnen vorüber. Es herrschte überall ein heiteres Treiben, und Josef verliebte sich.
Als er spät abends nach Hause kam, hörte er wieder eigenartige Geräusche, die aus seinem Garten kamen. Er ging rüber und sah eine Gestalt, die in seinem Komposthaufen wühlte. Josef zuckte nur mit den Achseln und ging kopfschüttelnd ins Haus.
Als er am nächsten Morgen aufwachte, es war Samstag und draussen schien die Sonne, hörte er wieder diese Geräusche in seinem Garten. Er schaute zum Fenster raus und sah einen Moment lang den Männern zu, wie sie in seinem Komposthaufen herumwühlten. Diesmal waren es drei, und wieder waren alle nur mit einer Pyjamahose bekleidet. Einer von ihnen erhob sich plötzlich und stiess einen Freudenschrei hervor. Er schien ein Häufchen Kompost in der Hand zu halten. Voller Glückseligkeit drückte er es sich an die linke Schläfe und rannte davon.
Josef liess die andern zwei Gestalten in Ruhe weiter wühlen und ging in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen.
Eine Stunde später stand er vor Pacos Wohnung und klingelte an der Tür. Pacos Frau Imelda öffnete.
„Herr Schmid, welch eine Überraschung, schön, Sie zu sehen!“, sagte sie.
„Guten Tag, Imelda. Ich hoffe, ich störe nicht.“        
„Aber nein, kommen Sie doch herein. Und vielen Dank für die schöne
Porzellanschüssel. Das wäre wirklich nicht nötig gewesen.“
Hinter der Tür stand Esmeralda, und als Josef in die Wohnung trat, lächelte sie ihn an und gab ihm einen flüchtigen Kuss.
Paco sass, nur in eine Pyjamahose gekleidet, am Tisch in der Küche. Er hatte einen Kaffee vor sich stehen und hielt eine Zeitung in der Hand. Als er Josef vor sich stehen sah, schaute er von der Zeitung hoch.
„Hallo Paco“, begrüsste ihn Josef, „gehen wir Pilze suchen?“
Paco faltete die Zeitung zusammen, legte sie auf den Tisch, fuhr sich langsam übers stopplige Kinn und schaute dabei lange in Josefs Gesicht. Dann sagte er:
„Gute Idee.“
           Er wandte sich seiner Frau zu.
           „Imelda, wo ist mein Plastiksack?“
Epilog
Prinz von El Dorado
                                                                        Wenn der Schnee geschmolzen ist, dann sieht man, wo die Kacke liegt.“
                                                                         (Rudi Assauer)
An einem fernen Königshof lebte vor langer, langer Zeit ein junger Prinz namens Gulliermo de la Mierda. Er war sehr unglücklich, denn alles, was er anfasste, verwandelte sich zu Scheisse. Egal, ob er einen Kelch mit Wein anhob, um daraus zu trinken, ob er einer Hofdame die Hand küsste, um ihr seine ergebenste Verehrung zu beteuern, oder ob er seinem besten Freund, dem Hund Hasso de la Rosa, liebevoll das Fell streichelte. Alles, was er in die Finger nahm, wurde zu Scheisse.
Diese unangenehme Eigenschaft versuchte er zu umgehen, indem er dicke Handschuhe anzog, um die direkte Berührung seiner Hände mit den Dingen, die er anfasste, zu vermeiden. Das ging eine Weile ganz gut so. Doch dann verwandelten sich auch die Handschuhe zu Scheisse, und dann plötzlich wurden auch all die Kleider, die er anhatte, zu Scheisse, und letztendlich wurde auch aus der edlen Krone aus Gold, die sein Haupt zierte, nur ein Haufen Scheisse.
Seinem Vater, dem König, machte das grosse Sorgen. Denn langsam verwandelte sich das ganze Schloss zu Scheisse, und somit war die Stimmung im Hofstaat ziemlich beschissen. Es blieb dem König nichts anderes übrig, als seinen Sohn schweren Herzens in einen Schweinestall sperren zu lassen, ihn in dicke Bandagen zu fesseln, damit er sich nicht bewegen und nichts anfassen konnte, und ihn durch Hofdiener füttern zu lassen. Natürlich mussten auch die Bandagen von Zeit zu Zeit gewechselt werden.
Der Prinz fühlte sich einsam. Doch die Schweine hatten ihn sehr lieb.
Die Hofdiener, welche sich um den Prinzen zu kümmern hatten, mussten sehr tapfer sein. Manchmal konnte es geschehen, dass während der Prinzenfütterung ein unachtsamer Diener den Löffel mit Brei zu weit in des Prinzen Mund schob und mit seinem kleinen Finger nur ganz leicht des Prinzen Nasenspitze berührte. Und schon war es um ihn geschehen. Auch kam es manchmal vor, dass ein Diener die Schweine übersah, die sich mit Vorliebe in den Kloaken suhlten, die den Prinzen umgaben, und dieser Diener dann über eins dieser Schweine stolperte, um daraufhin mit seiner Fresse voran in den Armen des Prinzen zu landen. Und schon war es um ihn geschehen.
Noch heikler erwies sich die Aufgabe, dem Prinzen frische Bandagen anzulegen. Zwar konnte die alte, die nach dreitägiger Berührung mit dem Prinzen nur noch eine stinkende, zähflüssige Masse war, mühelos mit einem Gartenschlauch abgespritzt werden. Übrigens war dies die einzige Prozedur, die auch dem Prinzen Spass machte, und die Schweine sahen dabei mit grossem Interesse zu. Aber danach dem Prinzen eine frische Bandage umzubinden, das war schon eine sehr diffizile Angelegenheit. Und so kam es, dass sich kaum mehr ein Diener dazu überreden liess, die Pflege des Prinzen zu übernehmen.
Um eine Rebellion seiner Untergebenen zu vermeiden, sah sich der König genötigt, seinen Sohn in die Verbannung zu schicken.
Guillermo zog von dannen, eine braune Schleimschicht hinter sich ziehend wie eine Schnecke. Überall, wo er auf eine Siedlung traf, richtete seine Gabe schlimmste Verwüstungen an. Nur die Schweine mochten ihn und fühlten sich wohl in seiner Nähe. Den Bauersleuten aber jagte er Furcht und Schrecken ein. Sie gaben ihm zwar zu essen und zu trinken, baten ihn aber dann doch sehr bald höflich und bestimmt, weiterzuziehen. Den Dreck, den er ihnen hinterliess, schaufelten die braven Bauern auf ihre Felder. Er erwies sich als guter Dünger für ihre Saat. Dieses Ritual, Scheisse auf die Felder zu schaufeln, hat bei den Bauersleuten bis heute noch Bestand. Zu Ehren des Prinzen nannte man es „Güllen“, auch wenn dieses Ritual heutzutage meistens mit Kuhdung ausgetragen wird.
So war Guillermo jahrelang unterwegs, und die Erde war durchzogen von braunen Schleimspuren. Als er eines Tages einen steinigen Weg entlang in Richtung der Berge zog, kam ihm ein Wagen aus Holz entgegen, gezogen von einem kräftigen Wasserbüffel. Der Wagen hatte zwei mächtige Holzräder, die furchtbar wackelten und in der Achse schrecklich quietschten. Oben am Wagen sass ein kleines altes Männchen, hielt mit einer Hand die Zügel, schwang mit der andern die Peitsche und trieb den Wasserbüffel mit einem unangenehmen Gekreische zur Eile an.
Noch bevor der Wagen an Guillermo vorbeifahren konnte, rammte er mit dem linken Rad einen grossen Felsbrocken, der im Weg lag. Durch die Wucht des Aufschlags wurde der ganze Wagen mitsamt dem Wasserbüffel kurz in die Höhe geschleudert, kam dort in leichte Schieflage, und als er dann mit dem rechten Rad voran wieder am Boden aufstiess, brach die Achse des Wagens entzwei, so dass der ganze Wagen in sich zusammenfiel und der Wasserbüffel, befreit von der Bürde seiner Last, auf und davon jagte. Das kleine Männchen aber lag eingeklemmt unter einem dieser mächtigen Räder und fluchte fuchsteufelswild, da es sich nicht selbst befreien konnte.
Guillermo sah das ganze Unglück aus nächster Nähe. Sofort eilte er herbei und wollte das Rad, welches über dem schmächtigen Männchen lag, anheben, um den kleinen Wicht darunter zu befreien. Als er aber das Rad mit seinen Händen berührte, verwandelte es sich augenblicklich in Scheisse, und das arme Männchen war plötzlich nicht mehr unter einem hölzernen Rad eingeklemmt, sondern überdeckt von einem riesigen Haufen stinkender Scheisse.
Als der kleine Wicht dann langsam aus dem Haufen hervorkroch, hatte er längst zu fluchen aufgehört. Er sah erbärmlich aus, wie er durch und durch vollgeschissen Guillermo gegenüberstand, der ihn etwas beschämt betrachtete. Doch in Wahrheit war dieses alte Männchen ein mächtiger Zauberer, und aus Dankbarkeit, dass er ihn aus seiner misslichen Lage befreit hatte, gewährte er Guillermo einen Wunsch.
Guillermo zögerte einen Augenblick. Dann wünschte er sich einen Schokoriegel.
Edith wandte sich zum Regal mit den Süssigkeiten, holte daraus einen Schokoriegel und ging damit zur Kasse. Sie bezahlte und ging in Richtung Ausgang. Die gläserne Schiebetüre öffnete sich und sie schritt hindurch. Draussen war es inzwischen dunkel geworden, und Edith wunderte sich, wie schnell doch die Zeit verging.
Gleich neben dem Ausgang stand ihr Wagen, und davor, mit den Zügeln an einen Pfahl gebunden, wartete geduldig ihr Wasserbüffel und löschte seinen Durst aus einer Wassertränke.
Sie band die Zügel los, stieg auf den hölzernen Wagen, nahm die Peitsche in die Hand und schwang sie in die Höhe. Ein Knall schallte durch die Luft. Edith rief ein lautes „Hü“, und der Wasserbüffel hob seinen Kopf aus der Tränke und setzte sich behäbig in Bewegung.
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